Die dritte Frau

Weibliche Frühgenialität, überhitzte Phantasie oder einfach literarische Meisterschaft? Vor 150 Jahren starb Emily Bront'

Das Rätsel "Bront'" will sich nicht abnutzen; fest eingeschweißt in die Aura des Geheimnisvollen haben die drei Pfarrertöchter ihren Rang als Sonderlinge in der Literaturgeschichte behauptet. Was genau ist an Charlotte, Emily und Anne Bront' eigentlich so mysteriös?

Jede bekannte biographische Einzelheit dieses Lebens neben der Welt für sich genommen scheint bereits mysterientauglich zu sein: das sittenstrenge Methodisten-Milieu, die Frömmelei des Vaters, der Alkoholismus des Bruders, die Düsternis der Moorlandschaft, die Kälte im Winter, die Einsamkeit - und natürlich der nahegelegene Friedhof, der das Pfarrhaus hufeisenförmig umschließt, das Brunnenwasser der Familie vergiftet und Krankheit und Tod befördert.

Was an diesem Detail, das in keiner biographischen Notiz unerwähnt bleibt, erschreckt und fasziniert, sind ja nicht die katastrophalen hygienischen Verhältnisse, die sind im 19. Jahrundert der Normalfall, sondern die Tatsache, daß der Tod hier bildhaft wird. Er dringt über den Friedhof ein ins Haus und greift nach den zarten Frauen - eine schauderhafte Vorstellung, und schon ist man Teil des so animierenden Bront'-Universums. Aber all diese Motive ergeben noch nicht die typische Gothic Novel, in die die Bront's eingesponnen sind.

Vermutlich steht im Zentrum des Rätsels die völlig banale Tatsache, daß es drei Frauen sind - gleich drei innerhalb einer Familie! -, die die viktorianische Gesellschaft in Aufruhr versetzten und Literaturgeschichte machten. Erst durch diese die Phantasie beflügelnde Schwestern-Konstellation entfalten die übrigen Umstände ihre Wirkung, stellt sich der Bront'-Effekt ein, der Verdacht, es gebe doch so etwas wie ein weibliches Genie. So erfährt z.B. der vor allem bei Emily ausgeprägte Naturmystizismus durch das Geschlecht der Verfasserin bei vielen Kritikern eine Art zusätzliche Autorisierung, in der man wohl vor allem die Angst vor dem seiner Domestikation entgangenen Naturwesen "Frau" vermuten darf.

Zweifellos sind die Bront's eine ideale Projektionsfläche für Weiblichkeitsmythen, allein schon deshalb, weil ihre Biographien nicht besonders ausführlich dokumentiert sind, so daß sich die Forschung an den immergleichen schrulligen Details abgearbeitet hat. Das heißt nicht, daß die Wirkung der Werke auf eben jener Dämonisierung der Verfasserinnen beruht. Ablehnung, Irritationen, aber auch heftige Bewunderung lösten die Romane von Charlotte ("Jane Eyre") und Emily ("Wuthering Heights") aus, ohne daß der Literaturbetrieb überhaupt Kenntnis vom Geschlecht ihrer Urheber gehabt hätte.

Über den Roman "Wuthering Heights", der unter dem männlich klingenden Pseudonym Ellis Bells veröffentlicht wurde, urteilte beispielsweise der spürbar geschockte Kritiker von Grahams Magazine im Juli 1848: "Es gibt eine Redensart, die besagt, daß derjenige, der abends geschmolzenen Käse ißt, in der Nacht vom Teufel träumen wird. Der Autor von 'Wuthering Heights' hat offensichtlich geschmolzenen Käse gegessen. Wie ein menschliches Wesen es unternehmen konnte, ein solches Buch zu schreiben, wie der Genannte, das 12. Kapitel abschließen konnte, ohne Selbstmord zu begehen, ist ein Geheimnis."

Über Emily, der "Familiengenius", wie Arno Schmidt, der die Bront's für das deutschsprachige Publikum entdeckte, sie genannt hat, ist nicht allzuviel bekannt. Das wenige, was man über sie in Erfahrung bringen konnte, stammt zumeist aus der Biographie "The Life of Charlotte Bront'" von Elisabeth Gaskell und beruht auf den Aussagen der Schwester.

1818 in Thornton geboren, verbringt Emily Jane Bront', die mittlere der drei, den Großteil ihres Lebens im Pfarrhaus von Hawthorne/Yorkshire. Sie ist wie ihre Schwestern eine belesene Frau, Shakespeare, Byron und Scott gehören zu den favorisierten Schriftstellern der Schwestern. Im Alter von 30 Jahren stirbt Emily an einer Tuberkulose, und zwar mit derselben Entschlossenheit, mit der sie die Dinge des Alltags anzugehen pflegte. So zumindest hatte Charlotte den Tod der um zwei Jahre jüngeren Schwester empfunden.

Vor allem die Lücken in der Vita sind es, die Emily als eine völlig zurückgezogen lebende Frau charakterisieren, die im Gedächtnis ihrer Zeit kaum Spuren hinterlassen konnte, weil sie die Gesellschaft nach Kräften gemieden hatte. Über ihre Zeit als Lehrerin in einer Schule bei Halifax, wo sie (vermutlich für ein halbes Jahr) unterrichtete, soll sie gesagt habt, daß das einzige Wesen, das sie in diesem Etablissement leiden konnte, der Haushund sei.

"Meine Schwester war von Natur aus nicht gesellig", schreibt Charlotte dazu im Vorwort zu "Wuthering Heights", "die Verhältnisse begünstigten und förderten ihre Neigung zur Zurückgezogenheit; außer um zur Kirche zu gehen oder einen Spaziergang in den Hügeln zu machen, trat sie selten über die Schwelle ihres Zuhauses. Obwohl sie den Menschen in ihrer Umgebung sehr wohlwollend gegenüberstand, suchte sie nie Umgang mit ihnen und verkehrte, mit sehr wenigen Ausnahmen, auch nicht mit ihnen."

Dennoch hat die Pfarrertochter Emily, eine Frau, die - und auch dies ist Teil des Rätsels - mit Männern kaum in Berührung kam, eine der spektakulärsten Männerfiguren der Literaturgeschichte geschaffen, Heathcliff, diesen fanatisch Liebenden, der zurückgestoßen wird und seine Rache an der Familie seiner Geliebten über zwei Generationen hinweg vollstreckt. Naheliegend ist es da, zu behaupten, Heathcliff sei vor allem das Ergebnis einer gewaltigen Projektion, das Produkt einer unterdrückten Phantasie.

Man denke nur an das sukkubische Ereignis des dritten Kapitels, in dem
die tote Catherine vor dem Fenster des schlafenden Mister Lockwood, des

Co-Erzählers des Familiendramas, erscheint, und an die Reaktion des dazugeeilten, außer Rand und Band geratenen Heathcliff. Den psycho-biographischen Aspekt des Romans besonders betonen, heißt zugleich, die Autorin Emily Bront' zu unterschätzen, die mit einiger Souveränität die vorläufig aufwühlendste Szene mit der trockenen Bemerkung abzuschließen versteht, das Gespenst verhalte sich im folgenden so launisch, wie Gespenster eben seien, und gebe keine weiteren Zeichen seiner Existenz.

Solchen Anflügen von Ironie haben die wenigsten Kritiker Beachtung geschenkt, wie man überhaupt die Erzähltechniken von Emily als die eigentliche Sensation ihres ersten und einzigen Romans erst neuerdings erkannt hat.

Die Abneigung gegen das erzählerische Konstrukt verwundert nicht; tatsächlich ist es eine der Bront'-Innovationen, daß sie die Geschichte vom Küchenpersonal erzählen läßt und damit die Nobilitierung der als literarisch minderwertig geltenden Formen des Gesprächs und des Klatsches vorwegnimmt. Auch für Arno Schmidt, der "Wuthering Heights" zwar eines "der guten Rätsel der Literatur" nennt, ist die Konstruktion eine "Zumutung an den Leser! 'Erinnerungen', erzählt in der 1. Person Singular, wechseln mit 'Briefen' oder 'Tagebucheintragungen' oder der einfachen Erzählform - die formalen, nicht Kühnheiten sondern Unmöglichkeiten sind in einer rührend-frühgenialen Art gehäuft, daß man in dieser Hinsicht ständig zwischen Bewunderung und Mitleid schwankt."

Dem Spott über Infantilität und Dilettantismus zum Trotz ist Schmidt der entscheidende Hinweis auf die Bedeutung des bis dahin als Kinderspiel geringgeschätzten Frühwerks der Geschwister zu danken, des "längeren Gedankenspiels", in dem die "taubengrauen Schwestern" (Schmidt) die Phantasiekontinente "Angria" und "Gondal" schufen. Für "Gondal", dem nordischen Gegenreich zum südlich-exotischen "Angria" von Charlotte, entwickelte Emily die Storyline und war verantwortlich für die zumeist schroffen Charaktere. Die Gemeinsamkeiten, die die Arbeiten der Bront's aufweisen, düften nicht zuletzt dieser Kollektivarbeit entspringen.

"Bei allen drei Bells" - das Gemeinschafts-Pseudonym der Bront's - "wird in grober Manier ein anstößiges Thema aus dem denkbar ärgsten Blickwinkel behandelt", heißt es in einem zeitgenössischen Literaturmagazin.

Eine Schmerzensfigur wie Heathcliff, die sadistisch quält und masochistisch leidet, mußte verstören in einer Zeit, da der Roman an den Umgansformen seines Personals gemessen wurde. Emily Bront' ließ den grausamen Impulsen Heathcliffs freien Lauf, ohne je eine Andeutung moralischer Mißbilligung zu machen; nicht einmal am Ende von Kapitel 12, nach dessen Abschluß sie sich nach Empfehlung des Rezensenten von Grahams Magazine, hätte unverzüglich umbringen sollen.

Offenkundig galt das Mitleid des Kritikers jenem Cockerspaniel der verliebten Isabelle, welchen Heathcliff noch am selben Abend, da er der von ihm verachteten Frau einen Heiratsantrag macht, an einem Gartenzaun erhängt. "This woman had pure imagination", urteilte James Joyce.

In dieser Wertschätzung eines Buches, das die viktorianischen Kritiker gern ins Schreckenskabinett der Literatur verbannt hätten, schwingt jedoch die Herablassung mit, der größte Vorzug der Autorin sei ihre ungebremste Phantasie; nicht hingegen die Technik kunstvoller Verhüllung und Überschneidung eines bis ins letzte Detail durchstrukturierten Romans.