Die Souveränität der Frechen

Am Ende der Walser-Debatte kann niemand mehr mißverstanden werden.

Eine Debatte, die im Feuilleton entstand, ist spätestens dann zu einem epochalen Ereignis geworden, wenn sie mindestens drei Sondersendungen des öffentlichen Fernsehens notwendig macht und wenn auch Campino und der ehemalige Oberbürgermeister von Biberach das Wort ergreifen.

Dieser forderte am vergangenen Freitag in einem Offenen Brief, den immerhin die Schwäbische Zeitung druckte, Ignatz Bubis auf, sich bei Martin Walser zu entschuldigen: "Kritik steht Ihnen zu. Aber von kultivierten Menschen erwartet man, daß Kritik konstruktiv ist." Jener versicherte am selben Tag der Rheinischen Post, er sei "böse über das", was Walser "da abgelassen hat". Und selbst die Möglichkeit, sich des Themas demnächst mit den bewährten Mitteln des Kuschelpunk anzunehmen, schloß er nicht aus: "Könnte passieren."

Seitdem wissen wir, daß die Auseinandersetzung um Walsers Friedenspreisrede mindestens so bedeutend ist wie die Fischer-Kontroverse, der Historikerstreit oder die Goldhagen-Debatte.

Nicht jeder allerdings teilt die Meinung des Biberachers, auch kultivierte Juden dürften mitreden, wenn die Deutschen sich über Auschwitz verständigen. Ein Leser, erzählte Wolfgang Büscher in der Welt, habe Walser einen Text des jüdischen Religionsphilosophen Jacob Taubes geschickt, in dem dieser eine seiner Lebensregeln formulierte: Hätten die nichtjüdischen Deutschen irgend etwas untereinander zu klären, so ziehe er es vor, zu schweigen und einfach nur zuzuhören. "Und die nichtjüdischen Deutschen haben etwas zu klären", fährt Büscher fort, "etwas, das nicht identisch ist, nicht identisch sein kann mit dem, was die jüdischen Deutschen umtreibt."

Sollen die Juden also für eine Weile den Rand halten? Besser wäre es. Denn ein Jude, der den Mund aufmacht, fördert den Antisemitismus. Das vermutete einst, anläßlich Goldhagens, die Gräfin Dönhoff, das vermutet heute ein Kommentator der Kölnischen Rundschau: "Der breiten Bevölkerung wird die Sache langsam über. Was weder den israelischen Botschafter Avi Primor noch den US-Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel zu mehr Zurückhaltung veranlaßt. Beide schütten weiter Öl ins vorläufig nur leise kokelnde Feuerchen, sehenden Auges die Gefahr mißachtend, daß sie dadurch einen latent vorhandenen Antisemitismus schüren könnten."

Trotzdem sollte man die pyrotechnische Metaphorik nicht so weit treiben wie der Dichter Reiner Kunze. Auf die Frage der Welt, ob die Deutschen besondere Schwierigkeiten hätten bei der Bewältigung der Vergangenheit, antwortete er zunächst mit einem Stück Lyrik: "Auch andere Völker / haben Schwierigkeiten / das sehe ich / beispielsweise / bei den Tschechen. // Nur haben sie / nicht unsere / Vergangenheit. / Und hierin / meine ich liegt // der Unterschied."

Dann aber brannte er ein geistiges Feuerwerk ab: Ignatz Bubis habe einen Scheiterhaufen errichtet. Nein, kein Krematorium, bloß einen Scheiterhaufen. "Ignatz Bubis hat eine Hexe geschaffen, die Hexe Walser. Und einen geistigen Scheiterhaufen, der die Eigenschaft haben könnte, weitere Hexen zu fordern. So verbrennt man geistig seine Freunde. Diejenigen, die dann tatsächlich Brände legen", nämlich die rechten und die linken Extremisten, "stehen schon Lunte bei Fuß. Genau davor aber hatte Martin Walser warnen wollen." Sowas nennt man wohl einen geistigen Scheißhaufen.

Ein anderer Dissident mußte es wochenlang erdulden, daß immer nur von Auschwitz und den Nazis geredet wurde, nicht aber von der anderen deutschen Diktatur. Wie er sich am geschicktesten in die laufende Debatte einmischen könnte, ohne an sein leidiges "Auschwitz in den Seelen" zu erinnern, grübelte Jürgen Fuchs, und kam schließlich auf das fast vergessene "letzte Wort in Walsers Rede".

Walser hatte an den Bundespräsidenten appelliert, den DDR-Spion Rainer Rupp zu begnadigen. Dieser Rupp, wandte Fuchs nun ein, sei vielleicht ein Idealist gewesen, jedenfalls aber ein Handlanger Mielkes, er habe vielleicht, das sei nicht auszuschließen, mit seinen Informationen unschuldige Menschen ins Gefängnis gebracht. Er sei eingeladen, sich nach seiner Entlassung die Stasi-Zentrale einmal anzusehen. Walser könne auch mitkommen. "Magdalenenstraße hält die U-Bahn, Alexanderplatz umsteigen." Und Bubis? Müßte die Einsicht, daß auch die Gojim ihr Päckchen zu tragen hatten, ihn nicht ein wenig milder sti... nein, wohl nicht. Die Walser-Debatte wird niemanden, der nicht schon heute einen Schaden hat, unbeschädigt zurücklassen.

Nur Henryk M. Broder fühlt sich prächtig unterhalten. Viele Leute, sagte er dem ZDF, hätten sich "bis zur Kenntlichkeit entstellt", dachte dabei aber an sich selbst zuletzt. Seine Kritik an Klaus von Dohnanyi, der die Juden aufgefordert hatte, sie möchten sich doch gefälligst einmal fragen, wie sie sich denn verhalten hätten, wenn im Dritten Reich nur Kommunisten, Homosexuelle und Roma ermordet worden wären, war zwar vollauf berechtigt, sie litt aber doch irgendwie unter seinem schlechtem Gedächtnis: "Soviel ich weiß, ist es im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik zum ersten Mal, daß so etwas passiert. Herr Dohnanyi hat sozusagen diese Kategorie in die öffentliche Debatte eingeführt: Wir überprüfen die Opfer auf ihre moralische Konsistenz."

Tatsächlich aber prüfte zu Beginn der achtziger Jahre schon einmal einer die Moral der Juden - mit dem Ergebnis, sie seien auch nicht besser. Zwar hätten sie keinen nennenswerten Widerstand geleistet, aber, so gab er zu bedenken, "was hätte ein Nicht-Nazi denn tun können? Er hätte als ein Held und Heiliger das tun können, was die Opfer selbst auch nicht getan haben (...). Er hätte sich für seinen biblisch Nächsten opfern können, mit seinem Leben. Das haben die Deutschen, das haben die Juden nicht getan. Kein moralischer Unterschied also zwischen der schweigenden Mehrheit der Deutschen und der schweigenden Mehrheit der Juden."

Man kann diese Sätze in Broders Buch "Der ewige Antisemit" nachlesen. Der Moralprüfer hieß Rudolf Augstein, und Broder schrieb damals, es gebe "nur einen vergleichsweise geringen Unterschied zwischen einem Propagandisten der 'Auschwitz-Lüge' und einem seriösen Publizisten wie Rudolf Augstein". Trotzdem mußte er enttäuscht feststellen: "Keiner stand auf und haute dem Rudi eine runter." Heute verzeichnet das Impressum des Spiegel Broder als angestellten Autor, deshalb kann der Henryk sich partout nicht erinnern, den Rudi einen "gepflegten Salon-Antisemiten" genannt zu haben.

Das ist um so peinlicher, da Augstein, kaum hatte Broder den "Volksgenossen" Dohnanyi angemessen abgefertigt, zu einer weit übleren antisemitischen Tirade anhub: "Nun soll in der Mitte der wiedergewonnenen Hauptstadt Berlin ein Mahnmal an unsere fortwährende Schande erinnern. Anderen Nationen wäre ein solcher Umgang mit ihrer Geschichte fremd. Man ahnt, daß dieses Schandmal gegen die Hauptstadt und das in Berlin sich neu formierende Deutschland gerichtet ist. Man wird es aber nicht wagen, so sehr die Muskeln auch schwellen, mit Rücksicht auf die New Yorker Presse und die Haifische im Anwaltsgewand, die Mitte Berlins freizuhalten von solch einer Monstrosität." (Spiegel, Nr. 49 /98; vgl. Jungle World, Nr. 50 / 98)

Denn die New Yorker, also jüdische Presse betreibt seit je gegen Deutschland "eine Stimmungsmache, der schon Konrad Adenauer Anfang der fünfziger Jahre mit den Worten Ausdruck gegeben hatte: 'Das Weltjudentum ist eine jroße Macht'".

Nun hat zwar Bubis erklärt, es sei ihm egal, ob das Mahnmal gebaut wird oder nicht, man solle sich nur endlich entscheiden. Trotzdem meint Augstein, "man würde untauglichen Boden mit Antisemitismus düngen, wenn den Deutschen ein steinernes Brandmal aufgezwungen wird". Der gutmütige Kohl versuchte seinerzeit, sich mit Bubis "über eine nationale Gedenkstätte zu verständigen, zunächst auf dem Umweg über die Neue Wache in Berlin". Dort werden die ermordeten Juden post mortem in die Volksgemeinschaft aufgenommen. Statt froh und stolz zu sein, verlangen die überlebenden nun plötzlich eine eigene Gedenkstätte, und "es bestätigt sich, was wir erst jüngst von einigen New Yorker Anwälten erlebten und was selbst Bubis, wenngleich in anderer Form, kritisierte: Auschwitz wird instrumentalisiert."

Das Schandmal von Berlin, wenn es denn gebaut wird, könnte für die Berliner Republik dasselbe bedeuten, was die Schande von Versailles für die Weimarer Republik bedeutete: "Der als Mahnmal deklarierte ästhetische Entwurf des amerikanischen Architekten Peter Eisenman ist eine Verhöhnung des entsetzlichen Grauens und eine Absage an die allmählich wiedergewonnene Souveränität unseres Landes (...). Verwirklichen wir ihn, wie zu fürchten ist, so schaffen wir Antisemiten, die vielleicht sonst keine wären."

In der Presse setzt sich allmählich die Meinung durch, die Walser-Debatte sei nichts als ein großes Mißverständnis. Augstein immerhin scheint Walser recht verstanden zu haben. Ignatz Bubis besteht weiterhin darauf, die Kontroverse lasse sich in einem versöhnenden Gespräch nicht aus der Welt schaffen. Auf Roman Herzogs Mißverständnis, es handle sich nur um einen Streit über die pädagogisch einfühlsame Darstellung des Holocaust, wird man sich nicht einigen können. Am Ende werden viele das empfinden, was Martin Walser beim Historikerstreit empfand: Er war froh, daß man fortan von der deutschen Geschichte eine andere Meinung haben konnte.