Keynesianismus im Ausverkauf

Die europäische Linkswende als Terror der Krisenverwaltung: Nachfragepolitik zum Abgewöhnen.

Nun singen sie wieder, die linkskeynesianischen Nostalgiker: Die neue rot-grüne Bundesregierung habe "die gesamtwirtschaftliche Vernunft wiederentdeckt", meint Finanzprofessor Rudolf Hickel (Jungle World, Nr. 48/98). Diese keynesianische Systemvernunft verdankte aber ihre Prominenz nach dem Zweiten Weltkrieg keineswegs eigener Stimmigkeit, sondern dem historischen Akkumulationsschub der fordistischen Industrien. Keynesianische Politik mußte damals keine Krise verhindern, sondern fungierte für den Kapitalismus als Zusatzmotor, der den Boom über seine immanent begrenzte Dimensionierung hinaustrug.

Dies war jedoch erkauft durch einen permanent gesteigerten Zugriff auf zukünftige Wertschöpfung in Form staatlicher Kreditaufnahme. Als sich die selbsttragenden Kräfte des fordistischen Booms erschöpften, ging das Wachstum in Stagnation über und die akkumulierte Staatsverschuldung ließ weltweit die Geldentwertung explodieren (Staflation).

Sobald es ernst wurde, blamierte sich der Keynesianismus als Antikrisenparadigma kläglich. Im Vergleich mit der auf J.P. Say zurückgehenden Angebotspolitik stellt die keynesianische Nachfragepolitik theoretisch nur die andere Seite derselben bürgerlichen Vulgärökonomie dar. Beide verfehlen gleichermaßen die innere Schranke der Akkumulation, die im Produktionsprozeß des Kapitals selbst und nicht in den sekundären Marktfaktoren von Angebot und Nachfrage angelegt ist. Denn der Kapitalismus ist eine "Marktwirtschaft" nur im Sinne einer nachgeordneten Realisationssphäre des Mehrwerts, nicht im Sinne einer primären Aushandlungssphäre unabhängiger ökonomischer Subjekte.

Wenn die von der Konkurrenz erzwungene Produktivitätssteigerung mehr Arbeit überflüssig macht, als durch die entsprechende Verbilligung der Produkte und die damit verbundene Erweiterung der Märkte reabsorbiert werden kann, dann kommt die erweiterte Reproduktion des Kapitals zum Stillstand und die Realinvestitionen gehen zurück, weil sie unrentabel werden. Nach einer gewissen Inkubationszeit erscheint diese innere Überakkumulation des Kapitals äußerlich als mangelnde Nachfrage auf den Märkten.

Will das Angebotskonzept die Expansion durch Kostensenkung um jeden Preis inklusive Billiglohn wiederherstellen, so favorisiert das Nachfragekonzept eine Steigerung des kapitalistisch unproduktiven Staatskonsums und der Transfereinkommen. Im einen Fall ist das Resultat der deflationäre Schock (allgemeiner Geldmangel), im anderen Fall die inflationäre Zerrüttung. Die Bereinigung der Überakkumulationskrisen in der Vergangenheit geschah weder durch Angebots- noch durch Nachfragepolitik, sondern nur durch die immanente Erschließung neuer, zusätzlicher Anwendungspotentiale von Arbeitskraft im Produktionsprozeß selbst.

Die dritte industrielle Revolution der Mikroelektronik seit den achtziger Jahren hat jedoch die Produktivkräfte endgültig über den irrationalen kapitalistischen Selbstzweck (unendliche Transformation menschlicher Energie in Geld) hinausgehoben und daher die Überakkumulation aus einem zyklischen in einen strukturellen Zustand verwandelt. Weil kein neuer immanenter Expansionsschub in der rentablen Vernutzung von Arbeitskraft mehr folgt, mußte nach dem Deficit spending keynesianischer Nachfragepolitik auch die Deregulierung neoliberaler Angebotspolitik abstürzen. Die trostlose systemkonforme Reparaturtheorie kann sich nur noch im Kreis drehen: Die neoliberale Pest soll jetzt wieder durch die keynesianische Cholera abgelöst werden. Aber die wenigsten Apostel einer Zurückwendung der Wende argumentieren so blauäugig wie Rudolf Hickel, der schlicht wie einst im Mai "steigende monetäre Nachfrage" durch "steigende Neuverschuldung" des Staates bewirken möchte. Statt dessen läuft die neue sozialdemokratische Krisenverwaltung auf eine Verheiratung von neoliberalen und keynesianischen Elementen hinaus. Die Protagonisten wissen, daß das Pulver des Deficit spending verschossen ist.

Nicht umsonst hat Kanzleramtsminister Bodo Hombach die Formel einer "Angebotspolitik von links" erfunden. Diese Vorgehensweise trägt der Transnationalisierung des Kapitals Rechnung, die den klassischen nationalökonomisch beschränkten Keynesianismus unmöglich gemacht hat. Es gibt keinen Weg zu einem Euro-Keynesianismus, denn Euroland ist weder eine erweiterte Nationalökonomie noch ein regulationsfähiger Mega-Nationalstaat, sondern durch ein extremes Gefälle von Kapitalstärke und Produktivität sowie durch divergierende politische bzw. rechtliche Instanzen gekennzeichnet. Das Dach der gemeinsamen Währung wurde im Interesse und auf Drängen der transnationalen Konzerne auf ein nicht vorhandenes Haus gesetzt. Die zu erwartenden sozialen und ökonomischen Verwerfungen durch den Euro können nur auf verschärfte Restriktionen statt auf eine wundersam vermehrte Massennachfrage hinauslaufen.

Soweit der neue Krisen-Sozialdemokratismus überhaupt eine Erhöhung der Massenkaufkraft versprochen hat, wurde diese sowieso von einem "Finanzierungsvorbehalt" abhängig gemacht. Der "Pragmatismus der neuen Mitte" hat immer schon die kapitalistische Systemdogmatik als Maßstab. Nicht die Existenz der herrschenden Gesellschaftsform wird an ihrer Funktionsfähigkeit für das Wohlergehen der Menschen gemessen, sondern genau umgekehrt das Wohlergehen und sogar die Existenz der Menschen an ihrer Kompatibilität mit den Imperativen des Systemerhalts um jeden Preis. Auf dieses gemeinsame Credo der Blair, Schröder und Co. hat ebenso ein Lafontaine geschworen, auch wenn er gegenwärtig von den Hardcore-Wirtschaftsliberalen als rotes Umverteilungsschreckgespenst ausgemalt wird.

In Wahrheit war schon die frühere keynesianische Nachfragepolitik keineswegs durch allgemeine soziale Wohltaten bestimmt, sondern viel eher durch eine Kombination von staatlichen Pyramidenprojekten mit einer autoritären Sozialbürokratie. Die Schröder-Clement-Connection will dem Pyramidenbau neue Impulse geben und die BRD endgültig zubetonieren; aber eben unter den Bedingungen der Globalisierung.

Arbeitsminister Walter Riester hat längst eingestanden, daß es nie mehr Vollbeschäftigung geben wird. Das bedeutet eine Politik der sozialen Apartheid: Orientierung auf subventionierte Kernbelegschaften (Transrapid, Airbus etc.), innovative High-Tech-Erfolgssektoren und transnationale Konzerne einerseits; Installation eines staatlich gestützten Billiglohnsektors, der durch die Brutalisierung von Zumutungsregeln und die Ausdünnung bis Abschaffung der Transfereinkommen flankiert wird, andererseits.

Diese Frechheiten der rot-grünen kombinierten Angebots-Nachfragepolitik sollen offenbar durch eine Ausbeutung der linken Geschichte legitimatorisches Unterfutter erhalten. Wie schon in Schulen und einigen sozialen Institutionen durchexerziert, dürfen die Betroffenen die Kürzung ihrer Mittel selber verwalten. Diese perspektivische Demokratisierung der Krise und Selbstverwaltung der Massenarmut versucht, die Tendenz zur Verlagerung des kapitalistischen Systemwiderspruchs ins Innere der Individuen politisch zu wenden. Damit beweist sich endgültig die historische Dummheit der alten linken Demokratisierungsphrase. Die Illusion einer emanzipatorischen politischen Regulation des unaufgehobenen warenproduzierenden Systems erlebt jetzt ihren Räumungsverkauf im Namen der kapitalistischen Funktionsgesetze.

Der post-neoliberale systemterroristische Pragmatismus von New Labour und Rot-Grün wird die Weltwirtschaftskrise und das soziale Wegbrechen der neuen Mitte nicht aufhalten, aber er kann sich am dumpfen Drang des arbeitsgesellschaftlich domestizierten Massenbewußtseins orientieren. Die Sklavenparole "Arbeit, Arbeit, Arbeit" verweist auf die Wurzel des heutigen Dilemmas von Gesellschaftskritik: Als Dissidenz des Liberalismus im 19. Jahrhundert hat der Sozialismus die Kategorie "Arbeit" positiv aus dem protestantisch-liberalen Denken übernommen und zur überhistorischen Menschheitsbedingung aufgeblasen, statt diese Realabstraktion als Tätigkeitsform der kapitalistischen Selbstzweck-Maschine zu enttarnen.

Der intellektuelle Befreiungsschlag muß sich endlich gegen das moderne Arbeits- und Leistungszuchthaus richten, das die Produktivkräfte in die absurde Form betriebswirtschaftlicher Rationalität einsperrt. Eine neue radikale Kritik und soziale Bewegung wird nicht um billige "Arbeitsplätze" für das Weiterfunktionieren des warenproduzierenden Systems winseln, sondern sich für eine emanzipatorische Aneignung der Ressourcen formieren. Die Enteignung des Kapitals ist keineswegs von gestern: aber nicht durch irgendeine sozialistische Staatsbürokratie, sondern durch einen Verbund freier Assoziationen, die den produktiven Potenzen etwas anderes abgewinnen als die Selbstzurichtung für die kapitalistische Verarmungs- und Zerstörungslogik.

Es gilt, sich nicht dumm machen zu lassen und die radikale Kritik der "Arbeit" zu entwickeln: unvermeidlich aus der Minderheitsposition gegen den Mainstream des pragmatischen Willens zur Zumutung. Die wahren Traumtänzer sind die Angebots-Nostalgiker, hoffnungslosen Reparaturdenker und Marktrealisten.