Mit Zuckerhut und Peitsche

Brasiliens Homosexuelle, Transvestiten und Lesben wehren sich gegen Diskriminierung und Doppelmoral

"Die Haltung der brasilianischen Kirche zu Schwulen und Lesben hat sich in diesen Tagen sehr verändert", meint Toni Reis. Der kleine Mann mit kurzen Haaren, der aus dem südlichen Bundesstaat Parana stammt, ist Präsident der "Gruppe Würde" und spricht im Namen der Internationalen Vereinigung von Schwulen und Lesben. "Im Mittelalter haben sie uns verbrannt. Heute nennen sie uns nur noch 'Kranke'."

Die Bitterkeit von Toni Reis bezieht sich auf eine Fernsehshow, die seit Wochen die Gemüter in Brasilien erregt. Im Mittelpunkt steht der katholische Priester Marcelo Rossi, dessen Freiluftmessen und TV-Sendungen nach US-Vorbild für Millionen von Menschen Anziehungspunkte sind. Zur besten Sendezeit forderte er von den Schwulen, er wolle "eindeutige Beweise" dafür sehen, daß Homosexualität keine Krankheit sei.

Die Schwulenbewegung reagierte prompt: Tausende Faxe und Briefe überschwemmten den Mediengiganten TV-Globo. Schon in der nächsten Sendung konnte ein Rechtsanwalt dem Publikum versichern, er werde den Priester vor Gericht ziehen. Auch Ärzte kamen zu Wort und zitierten die Position der Weltgesundheitsorganisation. Marcelos Angriff wurde zum Eigentor, er mußte die Bühne seinen Gegnern überlassen.

Auf politischer Ebene ist der Kampf um Rechte und Anerkennung schwieriger. Vor Jahresfrist kam es im Bundesparlament zu einer heftigen Debatte, nachdem die Abgeordnete Marta Surplicy aus S‹o Paolo einen Gesetzentwurf zur Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen eingebracht hatte."Ein solches Gesetz hätten nicht einmal vorgeschlagen werden dürfen, es diskreditiert dieses Haus", ereiferte sich ein Regierungsabgeordneter. "Widernatürlich", meinte ein Konservativer. Nur wenige Politiker verteidigten den Entwurf, unter ihnen der einzige grüne Abgeordnete, Ex-Guerillero Fernando Gabeira. Eingeschüchtert zog Surplicy den Entwurf vorläufig zurück. Bis heute ist nicht über das Gesetz abgestimmt worden.

Toni Reis bezeichnete die Schwulenbewegung im größten lateinamerikanischen Land als "heranwachsend": Wichtige Schritte seien getan, das meiste stehe aber noch bevor. Rund 80 Schwulengruppen gibt es im Land, mehrere nationale Treffen und Anti-Aids-Kampagnen wurden erfolgreich durchgeführt. Das Hauptproblem aber ist die Gewalt und die weit verbreitete Diskriminierung. "1 600 Homosexuelle sind in den vergangenen zehn Jahren ermordet worden, darunter 350 Transvestiten und 61 Lesben." Nicht einmal 20 Prozent dieser Verbrechen seien aufgeklärt worden, berichtet der Schwulenaktivist.

Bessere Nachrichten gibt es beim Thema Aids: Dieses Krankheitsbild sei unter den Schwulen zwar immer noch verbreitet, die Zahl der HIV-Infizierten nehme aber nicht mehr gravierend zu. Insgesamt gebe es in Brasilien nach Angaben des Gesundheitsministeriums jährlich 17 000 Neuinfektionen. Seit 1993 sind Heterosexuelle stärker von HIV betroffen als Schwule und Lesben. "Dieser Trend kommt daher, daß sich Schwule und Bisexuelle frühzeitig organisiert haben und seit langem für Safer Sex einsetzen", erklärt Pedro Chequer von der landesweiten Anti-Aids-Kampagne.

Während die Schwulen sich auf ihre schon seit Jahren arbeitenden Organisationen verlassen können, steckt die Lesbenbewegung noch in den Anfängen, erzählt Beth Calvet vom Lesbenkollektiv in Rio de Janeiro. "Bis 1996 agierten Männer und Frauen gemeinsam. Jetzt sind wir Teil der gemeinsamen Bewegung und organisieren gleichzeitig Lesbengruppen, bislang in fünf Bundesstaaten,". Mit lokalen Initiativen unterstützt das Kollektiv den Gesetzesvorschlag von Marta Surplicy. Im April 1999 wird der Stadtrat darüber entscheiden, ob gleichgeschlechtliche Paare Anrecht auf gemeinsame Sozialversicherung haben sollen. "Bereits 1996 konnten wir ein Gesetz durchsetzen, das sexuelle Diskriminierung in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst unter Strafe stellt." Es fehle vor allem an Treffpunkten - ein Lesbenclub in Rio ist vor kurzem geschlossen worden - und an Geld für Projekte. "Wir backen kleine Brötchen, fast alles finanzieren wir selbst", so Calvet. Im März wird in Rio der 5. Lateinamerikanische Lesbenkongreß stattfinden, zu dem 500 Frauen erwartet werden.

Eine im Verhältnis zu anderen Ländern besondere Erscheinung bilden in Brasilien die Transvestiten. Sie treten sehr selbstbewußt auf und sind - nicht nur während des Karnevals - aus der Kulturszene und dem Straßenbild der Metropolen nicht mehr wegzudenken. Im Zentrum Rios residiert die brasilianische Transvestitenvereinigung in einem dreistöckigen Gebäude. "Unser Hauptproblem", sagt Jovana Baby, "ist wie bei den Schwulen die Gewalt gegen uns." Ständig komme es zu Überfällen auf Transsexuelle, vor allem, wenn sie der Sexarbeit nachgingen. Gefährdet seien aber auch die Klienten. Viele der Übergriffe gingen von Polizisten aus. Jovana Baby, früher selbst Sexarbeiterin, beklagt auch die Hindernisse bei der Arbeit auf der Straße. "Wir kämpfen um diesen Markt. Für viele von uns ist Prostitution die einzige Möglichkeit zu überleben."

Am meisten verärgert Jovana die brasilianische Doppelmoral: Beim Karneval von Rio de Janeiro sind Transvestiten die Stars, Symbole des lebensfreudigen Landes. Sie schmücken Titelbilder und Fernsehshows, kein Straßenumzug wäre ohne sie denkbar. Alle Welt applaudiert und freut sich über die Freizügigkeit. Die restlichen 50 Wochen des Jahres sind Transvestiten unerwünscht und werden marginalisiert. Wenn rechte Schlägergruppen oder private Sicherheitsdienste Jagd auf sie machen, interessieren sich weder Justiz noch Politik dafür.