Besonderer Verdacht

Arno Lustigers "Rotbuch" über die widersprüchliche Politik der Sowjetunion gegenüber den Juden

Kommunisten können per definitionem keine Antisemiten sein, hieß es früher, weil sie die rassistischen Ideologien als Waffe der herrschenden Klasse zur Spaltung der unterdrückten Klassen entlarven. Und gern verwendete man Zitate von Lenin oder Stalin, die den Antisemitismus geißeln. Antisemitismus wurde als eine Form des Rassismus begriffen und dem Kapitalismus zugeschrieben, deswegen galt Antisemitismus im real existierenden Sozialismus als Überbleibsel des alten Systems. Noch heute wird von Teilen der Linken ein linker Antisemitismus, der seinen Ursprung im Marxismus selbst hat, negiert - allenfalls, so wird entgegnet, gebe es auch unter Linken Antisemiten, was aber nur den Einfluß der herrschenden Ideologien belege.

August Bebels Ausspruch vom "Antisemitismus als Antikapitalismus des dummen Kerls" bezog den Antisemitismus auf die jüdische Bourgeoisie und setzt ihn mit einem fehlgeleiteten Klassenhaß gleich. Daß der Antisemitismus sich durchaus auch gegen das jüdische Proletariat richtete, wurde ebenso ausgeblendet wie die Tatsache, daß der Antisemitismus historisch immer eine konterrevolutionäre Funktion hatte, weil er weitgehend aufklärungsresistent war.

Die Lösung des Problems hieß Assimilation. Wenn es keine Juden mehr gibt, wird auch der Antisemitismus nicht mehr existieren, so die Logik Lenins 1903: "Die jüdische Frage steht so und nicht anders: Assimilation oder Absonderung?" Lenin richtete sich damit gegen den Bund, die jüdische Arbeiterpartei, die wenige Jahre zuvor noch dazu getaugt hatte, die Sozialdemokratische Partei im zaristischen Rußland mitzubegründen. Nach Lenins Ansicht waren die Juden kein Volk und keine Nation, und Jiddisch, die Sprache der Juden im zaristischen Rußland, galt ihm als Relikt des Mittelalters. Hintergrund dieser scharfen Angriffe waren die Bemühungen Lenins um eine geschlossene revolutionäre Partei, die die - bis dahin selbstverständliche - Autonomie der jüdischen Arbeiterbewegung zu einem politischen Hauptwiderspruch erklärte.

Mit den Folgen dieser Programmatik beschäftigt sich Arno Lustiger in seiner Studie "Rotbuch: Stalin und die Juden". Nicht nur der tradierte Antisemitismus, der untrennbar mit dem großrussischen Chauvinismus verbunden ist, so die These des Autors, sondern auch die Geschichte der russischen Linken haben zu einer eigenen Form des Antisemitismus geführt: "Die russischen Marxisten haben nie verwunden, daß sie gewissermaßen in der Schuld jüdischer Revolutionäre standen: Juden gehörten einerseits zur Avantgarde der Bewegung, andererseits sollte das 'jüdische Element' der Revolution in immer neuen Anläufen ausgestoßen werden." Das "jüdische Element" war der Internationalismus.

"Die jüdische Nation hört auf zu existieren - für wen sollte man also die nationale Autonomie fordern? Die Juden werden assimiliert", formulierte Stalin ganz leninistisch in seiner Schrift "Marxismus und nationale Frage" von 1913, in der sich auch die Definition der Nation als "Gemeinschaft" findet, die bis heute bemüht wird, um nachzuweisen, daß es sich bei den Juden nicht um ein Volk oder eine Nation handelt.

Lenin und Stalin hatten jedoch ein Problem: Sofern es im zaristischen Rußland ein Proletariat gab, war dies zu einem großen Teil jüdisch; die Juden waren weit besser organisiert als die russischen "Klassenbrüder". Auf diese Massen konnten und wollten die Bolschewiki nicht verzichten. Lustiger weist nach, daß es keinen Bruch zwischen dem "Philosemiten" Lenin und dem "Antisemiten" Stalin gegeben hat: Nach 1917 ging es ihnen "in erster Linie um die Verteidigung der Macht und nicht um die (Überlebens-)Interessen der Juden".

Während des Bürgerkrieges 1917 bis 1921 - in der romantisierten Phase des "Kriegskommunismus" - waren nicht nur die weißen Konterrevolutionäre für Pogrome verantwortlich, sondern auch die glorreiche Reiterarmee Budjonnys. Gegen die einen protestierten die Kommunisten, zu den anderen schwiegen sie. Dem jüdischen Schriftsteller Isaak Babel wurde es 1940 zum Verhängnis, daß er in seinem Werk "Reiterarmee" die Pogrome der Roten nicht verschwiegen hatte.

Im Bürgerkrieg kämpften viele Juden in der Roten Armee; ein Sieg der Weißen hätte ihren Untergang bedeutet. Unter den Bolschewiki gab es Diskussionen, ob man nun alle Opfer der weißen Pogrome schützen solle oder auch diese Frage unter den Klassengesichtspunkt stellen müsse, was bedeutet hätte, die reichen Juden nicht zu schützen. Vor dem Hintergrund dieser Debatte gab es scharfe Interventionen von Lenin und Maxim Gorki, der in einem Flugblatt von 1919 die Juden als "die Hefe des Fortschritts" bezeichnete.

Die zwiespältige Haltung der Bolschewiki, fand ihren konkreten Ausdruck darin, daß teilweise sogar die Selbstverteidigung gegen die Pogrome als "jüdischer Nationalismus" denunziert wurde, zum anderen aber eine Hochzeit jiddischer Kultur in diese Phase fiel. Insgesamt war die Politik der Sowjetunion gegenüber den Juden widersprüchlich: Kampagnen gegen den Zionismus, der schon in den zwanziger Jahren als "Faschismus" bezeichnet wurde, wechselten sich ab mit Kampagnen, deren Ziel es war, Juden in der Landwirtschaft zu beschäftigen.

Zu dieser Politik gehörte auch die Gründung des autonomen Gebietes Birobidshan in Sibirien, das eine Alternative zum Zionismus darstellen sollte. Nach Stalins Definition stellten die Juden deshalb keine Nation dar, weil es keine Bauernschicht gab. Obwohl gerade die Juden keine Nation sein sollten, wurden sie als Nationalität geführt: Jeder Jude, ob er wollte oder nicht, erhielt ab 1932 den Paßvermerk jewrej - jüdisch. Denjenigen, die sich assimilieren wollten, wurde dies durch dem Stempel unmöglich gemacht; aber wer am Judentum festhielt, wurde beschuldigt, "Nationalist" zu sein.

Obwohl die Säuberungen, die 1936 einsetzten, keinen explizit antisemitischen Charakter hatten, waren viele Opfer Juden - die Listen der Angeklagten lesen sich, so Lustiger, wie "ein weißgardistisches Flugblatt gegen den 'jüdischen Bolschewismus'". Die Säuberungen gingen mit einer nationalen Wende einher, in der die Juden zu bevorzugten Objekten des Angriffs wurden, stand doch gerade die alte jüdische Garde der Bolschewiki für den Internationalismus. Statt als Beginn der proletarischen Weltrevolution wurde die Oktoberrevolution nun als Höhepunkt der russischen Geschichte gefeiert. Diese Nationalisierung, die auch während des "Großen Vaterländischen Krieges" anhielt, ist nach Lustiger ursächlich für die "antijüdische Zuspitzung der späten Stalindiktatur".

Ausführlich beschäftigt sich Lustiger mit der Geschichte des Jüdischen Antifaschistischen Komitees (JAFK). Hier bündeln sich die Widersprüche der sowjetischen Politik gegenüber den Juden. Das Komitee gründete sich zwei Monate nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im August 1941 und existierte bis 1948. Ihm gehörten viele Prominente an, unter ihnen der Autor Ilja Ehrenburg und der Schauspieler Solomon Micho'els, der auf Befehl Stalins 1948 ermordet wurde. Zwölf führende Mitglieder des Komitees wurden nach einem geheimen Prozeß 1952 hingerichtet, ihnen wurden "jüdischer Nationalismus" und "Verschwörung" vorgeworfen.

Obwohl und weil das JAFK international Geld für die Rote Armee sammelt und zum gemeinsamen Kampf gegen den deutschen Faschismus aufruft, wird es wenige Jahre nach der Befreiung zum Objekt der antizionistischen Propaganda. Das vom Komitee zusammengestellte "Schwarzbuch über den Völkermord an den sowjetischen Juden", das 1994 von Lustiger erstmals in deutscher Sprache herausgegeben wurde, durfte in der Sowjetunion nicht erscheinen; schon der Hinweis auf den Massenmord an den Juden wurde als nationale Überheblichkeit gedeutet.

"Im Zarismus wie im Stalinismus richtete sich gegen die Juden ein besonderer Illoyalitätsverdacht: Aus den 'Weisen von Zion' und dem geheimen Kahal wurde eine zionistische Weltverschwörung und die Organisation Joint", die in den USA zur Unterstützung der Juden in Osteuropa gegründet worden war. Dieser "besondere Verdacht" machte aus jüdischen Generälen der Roten Armee von einem Tag auf den anderen "zionistische Agenten"; er legitimierte die Morde an vielen jüdischen Intellektuellen und nicht zuletzt die beinahe völlige Zerstörung der jiddischen Kultur - obwohl es, auch das macht Lustiger deutlich, kaum Anhaltspunkte für eine tatsächliche Dissidenz der Juden gab. Offensichtlich machte ihre Assimilation sie verdächtig.

Der Aufbau Verlag will das "Rotbuch" von Arno Lustiger als "Ergänzung" zum "Schwarzbuch des Kommunismus" verstanden wissen, das lediglich drei Seiten Anmerkungen zum Antisemitismus enthält. "Schwarzbuch"-Herausgeber Stéphane Courtois beschwert sich darüber, daß "die 'Einzigartigkeit' des Genozids an den Juden die Wahrnehmung vergleichbarer Tatsachen in der kommunistischen Welt behindert" habe.

"Vergleichbare Tatsachen", das belegt die Studie von Lustiger, hat es hinsichtlich des Antisemitismus aber nicht gegeben. Sein "Rotbuch" ist deshalb auch keine Ergänzung zum "Schwarzbuch", sondern vielmehr ein Abriß zur Geschichte der Juden in der Sowjetunion, die, gerade weil sie den Vergleich zurückweist, zu einer umso schärferen Be- und Verurteilung des sowjetischen Projekts kommt.

Arno Lustiger: Rotbuch. Stalin und die Juden. Aufbau, Berlin 1998, 428 S. ,DM 49,90