In Düsseldorf werden mit "Puppen, Körper, Automate" Bild-Entwürfe des Menschen aus der Zeit vor der Gentechnologie gezeigt

Mechanische Körper

Der Mensch ist nicht mehr das Maß aller Dinge, zumindest in den Bildern, Fotografien und Installationen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die die Kunstsammlung NRW in Düsseldorf zeigt. - Weder in ästhetischer noch in philosophischer, naturwissenschaftlicher oder in erotischer Hinsicht. Er ist obsolet geworden, die Künstler ersetzen ihn durch Schaufenster-, Schneider- oder Gliederpuppen, antike Skulpturen oder anthropomorphe Phantasie-Apparaturen.

Ganz von Ferne nähert sich die Ausstellung damit auch der Diskussion über die Biotechnologie. Aber die "neuen Menschen" von George Grosz, El Lissitzky oder Oskar Kokoschka werfen nicht so sehr die Frage nach der Aktualität der Science-fiction von gestern auf, sondern vielmehr die nach der Motivation ihrer Schöpfer - eine Frage, die auch in bezug auf die Gentechnik in mancher Hinsicht lohnender ist als die nach dem Für und Wider.

Giorgio de Chirico macht aus den Geburtsstätten des italienischen Renaissance-Humanismus Geisterstädte. Auf dem Gemälde "Die beunruhigenden Musen" von 1924/25 ist die Piazza eine menschenleere Bühne mit einer grotesken Holzfigur, einem Torso mit Schneiderpuppen-Kopf und einer antiken Statue. Im Hintergrund steht ein prächtiger Palast, direkt an einen Industrie-Bau grenzend. Die Zentralperspektive als Ordnungsfaktor, einst dem menschlichen Blick nachempfunden, läßt der Maler implodieren; seine Lichtführung folgt ebenfalls nicht physikalischen Gesetzen.

Wollte de Chirico dem Anthropomorphismus in der Kunst ein Ende setzen und dem Nicht-Sinn Ausdruck verleihen, so ging es Oskar Schlemmer darum, den Naturalismus zu überwinden. Die menschliche Gestalt in einem bildnerischen Werk ist für ihn immer schon Abstraktion und niemals bloßes Abbild, weshalb er Modelle bereits als Vorlage für seine Arbeiten benutzte. In "Rot gegeneinander" (1928) treibt er ein rhythmisches Spiel mit den erstarrten Posen einer gelben und einer roten Gliederpuppe. Bei seinen Figuren für das "Triadische Ballett" reichte Schlemmer einmal sogar ein spiralförmig mit Draht umwickeltes schwarzes Holzgerüst, um Körperkonturen anzudeuten. Eine andere, die "Goldkugel", bestand aus fülligen runden Formen mit Ballons in Drahtgestellen als Plunderhose und einer Art goldener Riesenkartoffel als Bauch.

Die Surrealisten griffen in ihrer Ablehnung der genialischen Kreation aus dem Nichts auf das objet trouvé der Schaufensterpuppe zurück. In der "Exposition Internationale du Surréalisme", die 1938 in Paris stattfand, unterwarfen sie diesen Alltagsgegenstand vielfältigen Verfremdungen. André Masson stülpte seinem Modell einen Vogelkäfig über; die geöffnete Tür gab zwar den Kopf frei, aber der Mund war wieder mit einem Stück Stoff zugebunden. Dal' übersäte seine Figur mit Löffeln und stülpte ihr eine venetianische Karnevalsmaske auf den Kopf. Man Ray setzte seiner Puppe eine Glasträne unter das Auge und Espinoza funktionierte eine weibliche Brust zum Nadelkissen um.

Mochten die Ausstaffierungen auch noch so phantasievoll sein, ein Lustobjekt und damit den traditionellen Zuschreibungen verhaftet blieb der Frauenkörper fast allen Künstlern. Die bodenständigste Männerfantasie des Surrealismus brachte René Magritte 1928 in dem Bild "Versuch des Unmöglichen" auf die Leinwand. Es zeigt einen Maler, der mit Pinsel und Farbpalette seiner Traumfrau Leben einhaucht. Das Pygmalion-Motiv "Künstler-Mann schafft Frauenkörper" findet sich in vielen Exponaten der Ausstellung wieder.

Am radikalsten folgte dabei Kokoschka seiner Obsession. Als seine Gefährtin sich von ihm trennte, ließ er nach ihren Maßen eine Stoffpuppe anfertigen, die ihm auch als Vorlage für "Frau in Blau" diente. In "Maler mit Puppe" (1922) porträtierte er sich mit seinem Stoff-Idol, mit der Hand auf ihre Scham weisend.

Lediglich Marcel Duchamp geht auf Distanz zu den starr fixierten Männer- und Frauenrollen. Bei seiner Schaufensterpuppe sind die Geschlechter-Grenzen aufgehoben. Er inszeniert diese Skulptur jedoch nicht als Travestie-Gag. Mit Hut auf der Perücke, in zu großen Schuhen steckend, schwerem Sakko, Weste und Krawatte wirkt das crossgedresste Modell eher spröde. Den männlichen Blick thematisierte der Künstler in seiner Installation "Gegeben sind". Er setzte eine verwitterte Tür vor einen Verschlag, in dessen Innerem er einen Puppen-Torso, Stroh und einen künstlichen Wasserfall so arrangierte, daß eine kleine Öffnung in der Tür den Voyeursblick auf den nackten Körper freigibt.

In Düsseldorf ist eine Neu-Interpretation der Arbeit von Richard Baquié zu sehen. Sein "Ohne Titel" (1991) verhält sich zum Entwurf von Duchamp wie ein Negativ, es erlaubt nur Seiten- und Rückansichten auf die Szene, während dem Betrachter die obszöne Perspektive verwehrt wird. Vom Hauptwerk Duchamps, dem "Großen Glas" - auch als "Junggesellenmaschine" bezeichnet -, kann die Düsseldorfer Ausstellung nur das Gemälde eines Details, der Schokoladenpresse, präsentieren. Diese verstört-monumentale Selbstreflexion über Männerängste vor realen Frauen, die in der Produktion monströser Ersatzkörper münden, wäre ein sinniger Kommentar zu vielen gezeigten Exponaten gewesen, war aber wohl noch nicht einmal als Kopie verfügbar.

War die wächserne Puppe einst als getreue Nachbildung des Menschen entstanden, setzte sie als ästhetisches Ideal in den Schaufenstern der Warenhäuser selbst Normen und wirkte so auf die Schöpfer-Gattung zurück. Als die Kaufhaus-Betreiber allerdings merkten, daß die lebensechten Modelle die Aufmerksamkeit der Passanten von der Kleidung, die jene an ihrem Körper zu Markte trugen, ablenkten, wurden zunehmend gesichtslose Puppen produziert.

Eine ähnliche Entwicklung durchliefen die Anatomie-Modelle. Zur Blüte der Aufklärung Ende des 18. Jahrhunderts verbeugten sie sich in ihrer realistischen Gestaltung ehrerbietig vor der Schönheit des menschlichen Körpers - seiner äußeren Erscheinung wie seiner Eingeweide. Ästhetik und Wissenschaft waren noch eins, als Medizin-Studenten von einer blonden, mit einer Perlenkette behangenen "Venus", deren Bauchdecke geöffnet war, über Lage und Beschaffenheit der inneren Organe unterrichtet wurden. Mit dem Fortschreiten der medizinischen Wissenschaft bildete sich ein funktional-selektiver ärztlicher Blick heraus, und die ganzheitlichen Körpermodelle verloren ihre Bedeutung.

Nicht bloß die künstliche Frau, sondern gleich den ganzen "neuen Menschen" machten viele Künstler der russischen Avantgarde zum Sujet. "Puppen, Körper, Automate" zeigt Plakate und Figuren-Entwürfe zu der Oper "Sieg über die Sonne". In El Lissitzkys Bearbeitung von 1923 erhebt sie sich zu einem Loblied auf die Elektrizität, die "die Sonne als Ausdruck der alten Weltenergie" vom Himmel reißt, die Maschinen bewegt und sowohl die ganze Welt wie auch den Menschen antreibt: Er betritt als elektromechanisch betriebene Spiel-Figur die Bühne.

Tastende Schritte in Richtung Zukunft unternahm dagegen George Grosz, auf dessen Ölbildern der neue Mensch noch unfertig ist. Aus heutiger Sicht ist der Betrachter geneigt, "Ohne Titel" (1920), das eine gesichtslose Puppe ohne Unterarme und Hände vor einer gleichförmig-anonymen Großstadt-Architektur zeigt, als Warnung vor dem nivellierenden Massenzeitalter zu interpretieren. Grosz aber hat sich durchaus danach gesehnt, seine Existenz als Künstler-Bohemien in einem Kollektiv aufgehen zu lassen. Und so ist die Konturenlosigkeit von "Ohne Titel" eher eine ästhetische Vorwegnahme der Klassenlosigkeit, die die feinen und groben Unterschiede hierarchischer Gesellschaften aufhebt.

Den Wendepunkt im Verhältnis des Menschen zu den von ihm geschaffenen Kunstwesen, signalisiert Pierre Molinier in den Sechzigern. Er wollte seine alte Identität als einzigartiges Individuum abstreifen und amalgamierte sich auf seinen Fotos, in Straps und Dessous gekleidet, mit Schaufensterpuppen-Beinen und einretuschiertem Puppengesicht zu surrealen androgynen Travestien.

Die Körper-Entwürfe, die in Düsseldorf ausgestellt werden, sind zwar überkommen - "Die Automate ist ein Körpermodell der Vergangenheit", heißt es im Katalog - und die Werkstätten des mechanischen Zeitalters verwaist, während der neue Mensch virtuell am Computer-Bildschirm entsteht, molekular in den Labors der Gentechniker und mit Hilfe von neuronalen Netzen in den Experimentiersälen der Gehirnforscher.

Das macht die Ausstellung selber aber nicht zu einem Anachronismus, denn die alten und neuen Schöpfungsgeschichten speisen sich aus denselben Quellen: dem Statusverlust des Individuums als einzigartigem und "unteilbarem" Geschöpf und dem spezifisch männlichen Bestreben, das Weibliche symbolisch durch die Produktion von Kunstkörpern zu domestizieren.

"Puppen, Körper, Automate". Kunstsammlung NRW, Düsseldorf, Grabbeplatz. Noch bis zum 17. Oktober