Nichts als Sackgassen

Den Bürgerrechtlern glaubt keiner mehr, den Marktradikalen fehlt die Klientel. Wer soll eigentlich die Grünen künftig noch wählen?

Immerhin: Es gibt sie noch. Damit wäre aber auch schon im wesentlichen zusammengefaßt, worüber sich Grünen-Politiker derzeit noch freuen können. Die Partei steckt, so resümierte vergangene Woche der selbsternannte "virtuelle Vorsitzende" Joseph Fischer, "in einem Abwärtstrend, der existenzbedrohende Ausmaße angenommen hat". Nicht weniger pessimistisch schrieben Parteilinke um den Bundestagsabgeordneten Christian Simmert Mitte September: "Nach den dramatischen Wahlniederlagen bei den Europawahlen, in Rheinland-Pfalz, Brandenburg, im Saarland, in Thüringen, Nordrhein-Westfalen und voraussichtlich Sachsen stellt sich für Bündnis 90 / Die Grünen die Existenzfrage."

Ein Jahr Rot-Grün, und beim kleinen Koalitionspartner bestimmen interne Streitigkeiten und hektische Strukturdebatten das Geschehen. Aber auch die können kaum kaschieren, daß die Ökopartei politisch gescheitert ist. Da kämpft Vorstandssprecherin Gunda Röstel für die Abschaffung der Doppelspitze, ihre Kollegin Antje Radcke will sie erhalten. Fischer fordert einen Generalsekretär samt Wahlkampfzentrale, Umweltminister Jürgen Trittin hält dagegen. Und die Bundestagsabgeordnete Angelika Beer - immer für kleine Überraschungen gut - setzt sich dafür ein, daß ihr Außenminister nicht nur als "graue Eminenz im Hintergrund" die Fäden zieht, sondern endlich auch ein Parteiamt übernehmen soll. Terminologisch ganz auf der Höhe ihres Amtes analysiert die verteidigungspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion: "Wir haben nur noch einen Schuß."

Joseph Fischer und der erste deutsche Krieg, womit die Grünen nach Worten des Außenminister "sogar Sympathie hinzugewinnen konnten" - eine Bilanz, mit der allein sich auf Dauer nicht hausieren gehen läßt. Auch wenn es bislang zweifellos der größte Erfolg der Alternativen in der Legislaturperiode war, Deutschland im Namen der Menschenrechte kv zurückzumelden. Mehr aber ist an "grünem Profil", das man so gerne hochhalten würde, nicht geblieben. Gescheitert sind Linksgrüne wie Christian Ströbele oder Annelie Buntenbach, die den bürgerrechtsorientierten Flügel der Partei stärken und damit auf alte Traditionen setzen wollten. Die Stichwörter: doppelte Staatsbürgerschaft, Flüchtlingspolitik, Atomenergie und nicht zuletzt natürlich Antimilitarismus.

Ganze Parteigliederungen haben ihre Organisation im vergangenen Jahr frustriert verlassen, die alten Bürgerinitiativen vertrauen nicht mehr auf die Durchsetzungsfähigkeit ihrer parlamentarischen Vertreter und selbst traditionell Verbündete wie der Naturschutzbund oder Pro Asyl haben vor allem Kritik für die Grünen übrig. Einen Grund, warum dieses Spektrum den Parlamentariern künftig auch nur eine Stimme schenken sollte, können Simmert und Co. nicht nennen. Daran ändern auch die Versuche der Parteilinken wenig, im rot-grünen Bündnis den Oskar anstelle des Oskars zu machen und den alten Keynes hochzuhalten.

Sei's drum. Den Apologeten des gegnerischen Flügels, der die Ökos fürs wirtschaftsliberale Erbe der FDP fitmachen will, dürfte dieser Trend nur recht sein. So scheint es zumindest auf den ersten Blick. Im Handgepäck die Thesen des britischen Soziologen Anthony Giddens, sind die neuen Aufsteiger um Matthias Berninger und Cem Özdemir angetreten, um die Partei auf das Niveau eines "politischen Dienstleistungsunternehmens" zu heben. Munter reden die parlamentarischen Newcomer rigorosen Arbeitsmarktkonzepten wie etwa dem US-amerikanischen "welfare to work"-Programm das Wort. Ebenso erteilen die Abgeordneten selbst den vorsichtigen sozialstaatlichen Ansätzen der Parteilinken eine klare Absage. Im Visier der "verantwortungsvollen Liberalen": die veränderungsbereite Mitte.

Natürlich sind auch die Ansätze der Berningers und Özdemirs nicht gerade neu. Die Wirtschaftsliberalen können sich auf alteingesessene Grüne wie den Haushaltspolitiker Oswald Metzger berufen, der sich schon seit Jahren für eine neoliberale Erneuerung stark macht. So gab sich der Haushälter auch jetzt wieder besondere Mühe, einst heilige Kühe zu schlachten: In der Debatte um die Vermögenssteuer, für deren Wiedereinführung sich die Grünen noch vor ihrer Regierungsübernahme ausgesprochen hatten, war es vor allem Metzger, der den linken Kritikern der SPD das Leben schwer machte.

Eine "Umverteilung von oben nach unten", von der Linksgrüne einst fabulierten, ist mit Metzger, Berninger und Özdemir freilich noch nie zu machen gewesen. Deren Visionen sind so schlicht wie konsequent: Nachdem das "akademische Proletariat" aus dem alternativen Milieu im wesentlichen verschwunden, sprich zum mittelständischen Besserverdienenden avanciert ist, gelte es, diesen Wandel nachzuvollziehen. Auch wenn diese Leute nach Feierabend durchaus "links, linksliberal, grünalternativ" dächten, erläuterte Metzger bereits im Februar 1997, wollten sie "weiterhin gut verdienen" und erwarteten von ihrer Partei "eine fundierte Wirtschaftspolitik".

Das klingt plausibel. Trotzdem haben die marktradikalen Erneuerer falsch kalkuliert. Zwar liegt das Einkommen der meisten Grünenwähler- und -wählerinnen tatsächlich, ähnlich wie bei der FDP, über dem Bevölkerungsdurchschnitt. Soziale Lage und politische Einstellung sind jedoch bekanntlich nicht zwangsläufig so identisch wie einst angenommen. Das haben auch der Mainzer Politik-Professor Jürgen Falter und sein Mitarbeiter Kai Arzheimer mit Blick auf die Öko-Partei herausgefunden. In einer jüngst veröffentlichten Analyse stellen sie fest, daß auch heute noch für die Grünen als Partei und einen großen Teil ihrer Wähler "ökopazifistische Glaubensgewißheiten und das gesinnungsethische Engagament für nicht materielle Interessen charakteristisch" seien. Die Zahl dieser "Postmaterialisten", bei denen Themen wie Einwanderungspolitik und Atomenergie eine zentrale Rolle spielen, lieferten immer noch die große Mehrheit der Stimmen. Vor allem jene, die sich sehr stark mit den Grünen verbunden fühlten, hingen an den altgrünen Positionen. Aber auch beim umworbenen Wechselwähler machen die beiden Wahlforscher, wenn auch etwas moderater, eine ähnliche Tendenz aus.

Was nun, wo die Zukunft der Partei offenbar auf den Schultern der Loser liegt? Eine traurige Situation: Der ohnehin lädierte, durch den Krieg zusätzlich geschwächte linke Flügel wird mit jedem Tag, den er diese Regierung trägt, an Glaubwürdigkeit verlieren. Schließlich ist kein Bereich in Aussicht, wo man auch nur ansatzweise gegen die Parteirechten und gegen Schröders Sozialdemokraten punkten könnte. Und selbst dort, wo Profilierung noch denkbar wäre, in der Atompolitik, ist das Scheitern längst programmiert. Auch der letzte Notanker, die Forderung nach dem Bruch der Koalition, würde wohl das Bild der großen Verlierer lediglich abrunden, hatte man sich doch schon mit allem Unbill des Regierens arrangiert.

Bleiben also doch die Marktradikalen als grüne Hoffnungsträger? Vielleicht ließe sich ja jenseits der Stammwählerschaft noch ein Blumentopf gewinnen? Etwa bei den Jungwählern, wo derzeit das Durchschnittsalter der grünen Anhängerschaft bei 40 Jahren liegt und Berninger bei der jungen Generation eine deutliche Abwanderung "in Richtung CDU" ausmacht? Die aber sind bislang, so sagen Untersuchungen, bei der Union geblieben oder hängen den bürgerrechtsorientierten Zielen der Partei nach. Und die unentschiedenen Wirtschaftsliberalen? Falter und Arzheimer machen wenig Hoffnung: "Die Vorstellung, sozialliberale Wähler der FDP für sich mobilisieren zu können, ist vollends illusorisch, da diese Gruppe längst nicht mehr FDP wählt, sondern sich bereits vor längerer Zeit der SPD und den Grünen zugewendet hat." Das Resümee der beiden Wissenschaftler: Eine Neupositionierung in Richtung des von Berninger vertretenen Lagers könnte "den Untergang der Partei zur Folge haben".

Dieser katastrophalen Situation bewußt, haben jüngst zwei Parteilinke, der Außenpolitiker Frithjof Schmidt und der Europapolitiker Frieder Otto Wolf, "Arbeitsthesen für ein grünes Profil 2000" formuliert. Bevor die beiden jedoch zu ihren "Thesen" kommen, schicken sie voraus, wovon Linksgrüne bislang nichts hören wollten: Angesichts der "Verschröderung" der Sozialdemokratie müsse die Parteilinke "rigoros gegen das selbst formulierte doppelte Tabu der Zusammenarbeit mit CDU und PDS vorgehen". Eine naheliegende Konsequenz.

Eine Frage aber sei erlaubt: Warum treten die grünen Politprofis nicht gleich der Union oder den Sozialdemokraten von SPD und PDS bei und machen den grünen Laden einfach dicht? Gut zwanzig Jahre, nach dem sich Linke aufgemacht haben, um den sozialen Bewegungen via Parlament Gehör zu verschaffen, hätte sich damit die Partei ganz undialektisch selbst aufgehoben. Ein wegweisender Schritt wäre zweifellos getan. Als Warnung, fürs nächste Mal.