Die Erinnerungen an die sozialrevolutionären Momente der Nelkenrevolution verblassen

Was kostet die Freiheit?

50 Jahre nach der Nelkenrevolution sind die sozialrevolutionären Träume in Portugal schon lange der Ernüchterung über die Integration in die Reihen der bürgerlich-kapitalistischen EU-Länder gewichen. Während die Erinnerung an versäumte Möglichkeiten verblasst, bleiben politische Freiheiten und Frauenrechte wichtige Errungenschaften der portugiesischen Demokratisierung.

»An jeder Ecke ein Freund, auf jedem Gesicht Gleichheit, Grândola, braungebrannte Stadt, Heimat der Brüderlichkeit«, heißt es in dem Lied »Grândola, Vila Morena« des portugiesischen Musikers José »Zeca« Afonso. Als das Loblied auf die Arbeiter der kleinen Stadt im südportugiesischen Alentejo am 25. April 1974 im Radio erklang, wussten die aufständischen Militärs Bescheid: Es war das Signal für ihre Erhebung, die als Nelkenrevolution in die Geschichte Portugals eingehen sollte und die Diktatur des »Estado Novo« (Neuer Staat) sowie dessen Kolonialkriege in Mosambik, Angola und Guinea-Bissau beendete.

»Das Volk ist es, das in deiner Stadt das Sagen hat«, singt Afonso. 50 Jahre nachdem der oppositionelle Liedermacher die »Volksmacht« besang, wählten 19,5 Prozent der Einwohner des Kreises Grândola bei der vorgezogenen Parlamentswahl am 10. März die rechtsextreme Partei Chega. Damit ist Chega in Grândola die zweitstärkste Partei hinter dem sozialdemokratischen Partido Socialista (PS), mit Zustimmungswerten, die etwas über dem Landesdurchschnitt von ungefähr 18 Prozent liegen.

Unter der Ägide des katholischen Diktators António de Oliveira Salazar waren im portugiesischen Mutter­land – anders in den Kolonien – die Schulen und das ganze öffentliche Leben geschlechtergetrennt.

In der gesamten Provinz Alentejo, wo vor 50 Jahren noch die Bauern die Großgrundbesitzer enteigneten und die Kollektivierung der Landwirtschaft in die eigenen Hände nahmen, erzielten die Rechtsextremen überdurchschnittliche Ergebnisse. Am häufigsten gewählt wurden sie in der Provinz Algarve, wo der Tourismus längst die Fischerei als Hauptwirtschaftszweig abgelöst hat und die als politische Hochburgen der Sozialisten galt. Bei der Parlamentswahl ist Chega landesweit drittstärkste Kraft geworden und wird 48 Abgeordnete im Parlament stellen können.

Chega gilt als rassistisch, bestritt den Wahlkampf vor allem mit migrationsfeindlichen Inhalten. Die populistische Anti-Establishment-Pose erscheint angesichts der Korruptionsskandale der sozialdemokratischen Regierung vielleicht plausibel. Vor allem aber bietet die Partei ihren Wählern eine bestimmte, an die Zeiten des Diktators António de Oliveira Salazar angelehnte Geschichtsauffassung – wie sie beispielhaft Diogo Pacheco de Amorim vertritt.

Chegas Wahlslogan ist eine Abwandlung der salazaristischen Parole

Er zog 2022 als damals noch einziger Abgeordneter von Chega ins portugiesische Parlament ein. Seit dem 27. März ist er – ein ehemaliges Führungsmitglied des 1975 und 1976 aktiven rechtsterroristischen Movimento Democrático de Libertação de Portugal (MDLP) – Vizevorsitzender von Chega. Der MDLP verübte im verão quente, dem »heißen Sommer« von 1975, Bombenanschläge und Terrorakte gegen Linke. Während seines Studiums an der Universität von Coimbra und nach Auflösung des MDLP gehörte Pacheco de Amorim dem neosalazaris­tischen MIRN an, einer prokolonialistischen Bewegung. Pacheco de Amorim gilt als Urheber von Chegas Parteiprogramm. Chegas Wahlslogan »Gott, ­Vaterland, Familie und Arbeit« ist eine Abwandlung der salazaristischen Parole »Deus, pátria e família«.

Mit dem Einzug mehrerer Dutzend Rechtsextremer in das portugiesische Parlament gleicht sich auch Portugal dem in Europa vorherrschenden Trend nach rechts an.

Die Frage, was der rasante Stimmenzuwachs für Chega 50 Jahre nach der Nelkenrevolution über deren Erbe aussagt, ist in den vergangenen Tagen vermehrt gestellt worden. Mit dem Einzug mehrerer Dutzend Rechtsextremer in das portugiesische Parlament gleicht sich auch Portugal dem in Europa vorherrschenden Trend nach rechts an. Während manche die Wahlergebnisse in der Algarve als Protestwahl bezeichnen – Chega heißt immerhin »Es reicht!« –, ist der Politikwissenschaftler Vicente Valentim überzeugt, dass sich lediglich mehr Menschen wieder trauen, sich offen zu ihren rechten Einstellungen zu bekennen. »Das schnelle Wachstum der radikalen Rechten lässt sich dadurch erklären, dass ihre Ideen bereits da waren«, sagte er der portugiesischen Tageszeitung Público.

»Die Anhänger der populistischen radikalen Rechten sind mehr als nur Protestwähler« – zu diesem Schluss kommen auch Luca Manucci und Steven M. Van Hauwaert bei der Auswertung einer Umfrage von Ende 2023. Sie beobachteten unter Chega-Wählern eine aus­geprägte wertschätzende und nostalgische Bezugnahme auf das autoritäre Regime des Estado Novo, was sie deutlich von den Nichtwählern unterscheide.

Das überwältigende Ausmaß, in dem sich die Sehnsucht nach persönlichen und politischen Freiheiten nach Jahrzehnten der Diktatur am 25. April 1974 auf den Straßen Portugals zeigte, hat schon seinerzeit die internationale Presse zutiefst beeindruckt. Dass diese Erfahrung über Jahrzehnte hinweg und trotz ungelöst gebliebener sozialer Probleme gegen rechte Ideen »immunisieren« würde, ist hingegen offenkundig zu einfach gedacht.

73 Prozent der Portugiesinnen und Portugiesen zwischen 16 und 34 Jahren stimmen Público zufolge der Aussage zu, dass die Ereignisse des 25. April 1974 »eher positive als negative Folgen« hatten. Demnach würde »das Vermächtnis des 25. April unter jungen Leuten am meisten geschätzt«, so der Autor João Pedro Pincha.

Gedenken zum 50. Jahrestag des Umsturzes ganz im Zeichen der Frauenrechte

Doch während der 25. April in Portugal jedes Jahr mit Staatsfeierlichkeiten begangen und als positiver historischer Bezugspunkt folkloristisch tradiert wird, bezweifelt Amelia Correia, dass die Bedeutung der Nelkenrevolution der jüngeren Generation wirklich bewusst ist. Dem Deutschlandfunk schildert die Zeitzeugin der Nelkenrevolution ihre Angst, »dass das alles immer mehr verblasst«. »Die Jugend von heute weiß nicht, wie das Leben in Portugal vor dem 25. April 1974 war.« Darüber werde weder in der Schule noch in den Familien ausreichend gesprochen.

Auch wenn die Sieger der Revolution die Versuche, die ökonomischen Strukturen des einstigen »Armenhauses Europas« grundlegend zu verändern, schnellstens zu unterbinden gewusst haben, so besteht das Erbe der Nelkenrevolution in den politischen Freiheiten fort, die die bürgerliche Demokratie zu bieten hat. Eine tiefgreifende Veränderung hat sie auch für Portugals Frauen bewirkt. »Im Gegensatz zu einigen Ausprägungen des Faschismus, die Libertinage oder sexuelle Promiskuität tolerierten, insbesondere zum deutschen Nationalsozialismus, war der portugiesische Faschismus ein Regime von Bigotten und Puritanern, die überall eine strikte Trennung der Geschlechter durchsetzten«, schreiben Rita Delgado und João Bernardo auf dem Blog Passa Palavra.

Unter der Ägide des katholischen Diktators António de Oliveira Salazar waren im portugiesischen Mutterland – anders in den Kolonien – die Schulen und das ganze öffentliche Leben geschlechtergetrennt. Helena Afonso, die Tochter des Liedermachers, die ihre Kindheit und Jugend in der portugiesischen Kolonie Mosambik verbrachte, schildert ihre Eindrücke, als die Familie in das salazaristische Portugal umsiedelte, im Deutschlandfunk: »Bis zur Revolution hatten viele Männer keinerlei Kontakt mit dem anderen Geschlecht, es sei denn durch die Familie oder durch Heirat.« Frauen spielten in der Opposition gegen die Diktatur in Portugal daher eine große Rolle.

Das Gedenken zum 50. Jahrestag des Umsturzes scheint ganz im Zeichen der Frauenrechte zu stehen. Die Tageszeitung Público hat den »Frauen einer (noch) nicht abgeschlossenen Revolution« online ein Dossier gewidmet, Interviews und Biographien beschreiben das Leben und die politischen Kämpfe von Frauen im Widerstand und ihr fortlaufendes Engagement für die Gleichstellung nach 1974.

Den »Frauen im Widerstand« widmete das Aljube-Museum in Lissabon, welches seit 2015 in den Räumen der ehemaligen Gefängniszentrale an die Geschichte der Salazar-Diktatur und die Repression erinnert, 2021 eine Sonderausstellung. Neben Zeitzeugenberichten oppositioneller Frauen, stand im Mittelpunkt der Ausstellung das Verbot der »Novas Cartas Portuguesas«, eines Buchs, das Essays, fiktionale Briefe, Prosa und Erzählungen versammelte und wenige Tage nach seiner Veröffentlichung im Jahr 1972 vom Regime verboten wurde. »Pornographisch« und »ein Angriff auf die öffentliche Moral« sei das Werk. Die drei Autorinnen, Maria Isabel Barreno, Maria Teresa Horta und Maria Velho da Costa, wurden zu Haftstrafen verurteilt. Der Prozess und die Inhaftierung der Autorinnen wurden seinerzeit von einer breiten internationalen Solidaritätsbewegung für »die drei Marias« begleitet.

Perspektivwechsel gefordert: »Der 25. April entstand in Afrika.«

Einen weiteren Perspektivwechsel in der Erinnerung an die Nelkenrevolution fordert Dr. Teresa Pinheiro, Professorin am Institut für Europäische Studien der TU Chemnitz. Anlässlich des 50. Jubiläums des Beginns der Nelkenrevolution organisiert sie gemeinsam mit Kollegen von der Humboldt-Universität in Berlin Ende des Jahres eine wissenschaftliche Tagung unter dem Titel »Nelken für alle? Die Erinnerung an die Nelkenrevolution im 21. Jahrhundert«. Im Ankündigungstext wird gefordert, eine postkoloniale Perspektive in den Mittelpunkt zu rücken. »Nicht das portugiesische Militär habe dem fünfhundert Jahre alten ­Kolonialsystem und dem dreizehn Jahre andauernden Kolonialkrieg ein Ende gesetzt, sondern umgekehrt«, resümiert der Text die postkoloniale Sichtweise und zitiert den Soziologen und Aktivisten Apolo de Carvalho: »Der 25. April entstand in Afrika.«

Gemeint sind damit die Unabhängigkeitsbewegungen in den portugiesischen Kolonien, wie die Frelimo (Frente de Libertação de Moçambique), MPLA (Movimento Popular de Libertação de Angola) und PAIGC (Partido Africano da Independência da Guiné e Cabo Verde). Auch für deutsche Antiimperialisten bildeten diese Bewegungen damals wichtige Bezugspunkte. Rückblickend waren sie allerdings weniger sozialistische als eher nationale staatsmachtorientierte Organisationen.

Auf die Unabhängigkeit Angolas folgte dort ein langer Bürgerkrieg, in dem die unterschiedlichen Parteien der Unabhängigkeitsbewegung um die Macht kämpften, und dann ein über 40 Jahre andauerndes autoritäres Regime der MPLA.

Pinheiro gibt zu, dass die Aussage polemisch gemeint und eher als aktivistische Forderung zu verstehen sei. Mit der Aufarbeitung der Kolonialgeschichte ist man in Portugal nicht besonders weit, sagt sie der Jungle World und kommt auf den Alltagsrassismus in Portugal zu sprechen, der »nicht gerade subtil« sei. »Es ist an der Zeit, den richtig anzugehen«, findet Pinheiro. »Die symbolische Umdeutung der Geschichte – die Afrikanisierung des 25. April – hat für mich hauptsächlich diese Funktion.«

In den ehemaligen Kolonien spielt das 50. Jubiläum der portugiesischen Demokratie keine große Rolle. Auf die Unabhängigkeit Angolas folgte dort ein langer Bürgerkrieg, in dem die unterschiedlichen Parteien der Unabhängigkeitsbewegung um die Macht kämpften, und dann ein über 40 Jahre andauerndes autoritäres Regime der MPLA. Auch in Mosambik setzte sich die einst von deutschen Linken romantisierte Frelimo in einem bis 1992 anhaltenden Bürgerkrieg gegen die Resistência Nacional Moçambicana (Renamo) durch.

Dass die Unabhängigkeitskämpfer einen derart direkten Einfluss auf die Nelkenrevolution nahmen, wie es der Tagungstext suggeriert, würde Peter Meyns, Afrikaexperte und emeritierter Politikprofessor der Universität Duisburg-Essen, so nicht sagen. Aber »es war ein ganz wichtiger Anstoß«, denn die Bewegung der Streitkräfte (MFA), die die Nelkenrevolution anstieß, hatte sich »primär aufgrund der Erfahrung der portugiesischen Kolonialkriege gegründet«.