Racak, die Zweite

Das so genannte Massaker von Racak wird erneut untersucht. Die Zweifel an der offiziellen Version zum Hergang des Verbrechens mehren sich.

Wieder einmal wird die finnische Pathologin Helena Ranta das Kosovo besuchen müssen: Die Provinz kennt sie schon, denn seit Herbst letzten Jahres ist die Ärztin mit den Überresten der Opfer des blutigen Krieges beschäftigt. Zum ersten Mal aber wird sie jetzt nach Racak kommen. Nach Jungle World vorliegenden Informationen aus dem Hauptquartier der Kfor in Pristina werden Ranta und ihr Team damit beschäftigt sein, das so genannte Massaker von Racak vom Januar dieses Jahres endgültig aufzuklären.

Denn wie Jungle World aus EU-Kreisen erfuhr, gibt es im Fall Racak eine Menge Ungereimtheiten, die eine weitere Untersuchung notwendig erscheinen lassen. Mit im Team von Helena Ranta wird ein Ballistiker und ein Tachymetrie-Experte sein. Die wissenschaftliche Verstärkung ist notwendig, weil in den Labors der Pathologen in Helsinki einige Zweifel am Hergang des Massakers aufgetaucht sind. "Etwas bei den Einschusswinkeln ist faul", drückt man es in Helsinki vorsichtig aus.

Anlass für die abermalige Reise des Pathologen-Teams in die unwirtliche Krisenprovinz sind neue Fotos der Toten, die erst vor knapp drei Wochen aufgetaucht sind und Zweifel am genauen Hergang der Ermordung von insgesamt 45 Menschen in Racak aufwerfen.

Die Zweifel wurden inzwischen auch zu Papier gebracht: Wie österreichische Gerichtsmediziner berichteten, hatte das Team von Helena Ranta mehr als den offiziellen Untersuchungsbericht verfasst. In einem Safe in Helsinki befindet sich eine Sammlung von Notizen, die "Rückschlüsse darauf zulassen, was wirklich passiert ist", drückt es ein Pathologe aus.

Konkret vermuten die Gerichtsmediziner, dass an den insgesamt 22 Leichen, die einen Tag nach dem Massaker in der Nähe Racaks gefunden worden waren, Manipulationen vorgenommen worden seien. Sollte sich der Verdacht bestätigen, wird wohl auch der ehemalige Chef der OSZE-Truppe im Kosovo, William Walker, einige Fragen zu beantworten haben. Er war es, der einen Tag nach dem Massaker mit seinen OSZE-Beobachtern am Tatort herumgestapft ist und die Serben verantwortlich machte . Eine routinierte Spurensicherung wurde damals nicht vorgenommen. Was tatsächlich hinter den Absperrungen passiert ist, muss nun das finnische Pathologenteam erneut beleuchten.

Das Problem im Fall Racak ist nach Angaben aus Helsinki auch, dass ausschließlich Beweise und Dokumente für die Obduktion verwendet werden konnten, die von der OSZE sichergestellt und gesammelt worden waren. Dabei haben die Beobachter unter Führung Walkers wahrscheinlich nicht geschlampt: Walker hat als ehemaliger CIA-Mitarbeiter genügend Erfahrung damit, Fakten zu produzieren und andere verschwinden zu lassen.

Verschwunden sind etwa auch fünf der 45 Leichen im Falle Racak. Die finnischen Pathologen, die sich damals in der Universität von Pristina als Leichensezierer betätigt hatten, zählten nur 40 Leichen. Die vermissten fünf wurden nach Vermutungen aus Helsinki wahrscheinlich noch vor dem Auftauchen der OSZE-Leute weggebracht. Bis heute konnten weder Experten des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag noch Kfor-Soldaten oder andere beamtete Spürhunde den Verbleib der fünf Toten klären. Ähnlich mysteriös ist das Verhalten mehrerer OSZE-Beobachter, die am Tag des Massakers unweit von Racak standen und das Dorf beobachteten. In Helsinki findet man es "eigenartig", dass diese Beobachter keinerlei Schüsse oder Kampflärm registrierten.

Dass es sich möglicherweise doch nicht um die willkürliche Ermordung von eigentlich friedlichen Dorfbewohnern gehandelt haben könnte, legen auch Aufnahmen nahe, die ein Kamerateam von AP am Tag des mutmaßlichen Massakers gemacht hatten. Die Journalisten begleiteten jugoslawische Truppen beim Einmarsch in Racak. Das Dorf war leer, zum Erschießen war also niemand da. Die UCK dagegen hatte damals getönt, die Truppen Milosevics hätten Racak eingenommen und willkürlich anwesende Zivilisten ermordet.

Dass die Pathologen im Auftrag der EU überhaupt im Kosovo neuerliche Untersuchungen anstellen durften, ist Folge eines diplomatischen Kraftakts. Das Haager Kriegsverbrechertribunal hatte sich ursprünglich derartige Einmischungen verbeten. Jungle World liegt ein Brief des stellvertretenden Chefanklägers Graham Blewitt vom 5. August 1999 an den finnischen Botschafter in den Niederlanden vor. Darin legt Blewitt dem Diplomaten nahe, seine Regierung davon zu überzeugen, keine Pathologen in die Provinz zu schicken. Dies würde nur zu Chaos führen. Tenor: Das Kriegsverbrechertribunal wird schon machen.

Immerhin werden die Pathologen der EU diesmal die Möglichkeit haben, endlich einmal den Tatort selbst zu sehen. Denn als Helena Ranta ihren ersten Untersuchungsbericht vorlegte, kannte sie Racak nur von Fotos.