Zwischen Pest und Belgrad

Auch für die etablierte serbische Opposition spielt das Schicksal der Deserteure keine Rolle.

Die serbisch-orthodoxe Liturgie wird schon eine Stunde lang zelebriert, als in den hinteren Reihen die Unruhe zunimmt. Immer mehr Menschen drängen in die Kirche. Darunter auch Zoran Djindjic, führender Vertreter der serbischen Opposition. Zielstrebig bahnt er sich eine Gasse durch die Menge, bis er die ideale Position für die Kameras erreicht hat: zur Linken des Königs, oder genauer: Aleksander Karadjordjevics, des Prätendenten auf einen wieder zu schaffenden serbischen Thron, angereist aus britischem Exil.

Anlass für die Anwesenheit solch illustrer Gäste war der Gottesdienst in Szentendre, einem nördlichen Vorort von Budapest. Die Messe war der Abschluss für ein Treffen zwischen serbischen Oppositionellen und Vertretern der serbischen Diaspora - vorrangig aus den USA - , das einen Tag zuvor, am 13. November, im Budapester Hilton stattgefunden hatte.

Nicht nur von der Kirche wurden mit dem Erzbischof von Chicago, dem heimischen Bischof von Buda und dem für das Kosovo drei hohe Würdenträger aufgeboten, auch die Opposition war prominent vertreten. Neben Djindjic waren Mirjana Plavsic, die ehemalige Präsidentin der bosnisch-serbischen Republika Srpska, und für die Partei von Vuk Draskovic der Bürgermeister von Belgrad anwesend sowie weitere bekannte Monarchisten und Angehörige des politisch unzufriedenen Establishments.

Unter der Ägide der traditionelleren Autoritäten, die die serbische Geschichte bereithält, scheint die Opposition einen neuerlichen Anlauf zu unternehmen, das einzige alle verbindende Ziel, Milosevic zu stürzen, zu erreichen. Wesentlich dazu beitragen soll die nun gezielt gesuchte Unterstützung jener wirtschaftlich potenten Menschen in aller Welt, deren Familiengeschichte sich auf serbische Vorfahren zurückführen lässt.

Mit dabei in dieser Runde ist aber auch eine Hand voll junger Männer, die während des Kriegs der Nato-Staaten gegen Jugoslawien aus der jugoslawischen Armee desertiert oder der Einberufung zur Truppe erst gar nicht nachgekommen sind. Sie hoffen darauf, dass sich ihnen hier die Gelegenheit bietet, auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Denn wie Zoran O.*, ein Mitarbeiter des Projekts "Haus für Deserteure" in Budapest, berichtet, spielt das Schicksal derjenigen, die sich während des Krieges dem Zugriff des jugoslawischen Militärs entzogen haben, auch in den Reihen der Opposition keine bedeutende Rolle.

Es ist ausschließlich ein Problem für die Betroffenen und deren Familien. Immerhin konnte einer von ihnen am vorangegangenen Tag der versammelten Gemeinschaft die Situation der Deserteure darstellen. Auch im Anschluss an die Liturgie hören sich einige der Gäste aus den USA interessiert an, was die Fahnenflüchtigen ihnen zu erzählen haben, und versichern, man werde schauen, was sich machen lasse.

Genaue Angaben über die Zahl derjenigen, die sich während des Krieges der Armee entzogen haben, gibt es nicht. Dem ehemaligen Vorsitzenden der Rechtsabteilung des Oberkommandos der jugoslawischen Armee zufolge liegen bei den Militärgerichten etwa 23 000 Anklagen wegen Vergehen während des Nato-Bombardements, ein Großteil davon wegen Nichtbefolgung der Einberufung bzw. Desertion. Das Strafmaß dafür bewegt sich zwischen einem und zehn Jahren Haft und erhöht sich auf fünf bis zwanzig Jahre, wenn der Betroffene sich ins Ausland abgesetzt hat. Derzeit ist zwar auch die Strafverfolgung wegen der chaotischen innenpolitischen Verhältnisse in Jugoslawien beeinträchtigt, aber zumindest in Serbien werden entsprechende Urteile nach wie vor verhängt und vollstreckt.

In Montenegro dagegen hat sich die Situation verändert. Hatte die gesamtjugoslawische Militärpolizei zu Zeiten der Luftangriffe Zugriff auf das gesamte Territorium der Republik, so fällt nach deren Ende die Strafverfolgung in die Zuständigkeit der montenegrinischen Behörden. Und die - um größtmögliche Distanz zu Milosevic bemüht - haben kein Interesse daran, Amtshilfe für Belgrad zu leisten. Aus diesem Grund versuchen viele Deserteure, sich in die kleinere Teilrepublik abzusetzen.

Schon während des Krieges sind mehrere Tausend Deserteure aus Jugoslawien geflohen, vor allem nach Bosnien-Herzegowina und nach Ungarn, da für die Einreise in diese Staaten kein Visum erforderlich war. Budapest ist seitdem eine Art Zentrum für Exil-Jugoslawen. Dort ist im Mai dieses Jahres auch das Haus für Deserteure gegründet worden, mit dem Ziel, zunächst den Betroffenen zu helfen, ihnen - wenn nötig - eine sichere Unterkunft zu bieten, sie mit Informationen zu versorgen und ihre Interessen gegenüber dem ungarischen Staat und anderen Organisationen zu vertreten. Zoran O. schätzt die Zahl der serbischen Deserteure, die sich zur Zeit in Budapest aufhalten auf mehrere Hundert, in ganz Ungarn auf mehrere Tausend.

Mit ungefähr fünfzig Deserteuren steht das Projekt in Verbindung. Das nächstliegende Ziel ist, für die Flüchtlinge einen gesicherten Aufenthaltsstatus zu erreichen. Denn obwohl ihnen nach der Genfer Konvention und den Grundsätzen des UNHCR die Anerkennung als Flüchtling zustünde, wird ihnen dies von Ungarn verweigert - genauso wie von sämtlichen EU-Staaten, die, sofern sie dem Schengener Abkommen beigetreten sind, über ihre Visumvorschriften sie in der Regel gar nicht erst einreisen lassen.

Laut UNHCR ist eine auf Desertion stehende Strafe dann als Verfolgung anzusehen, wenn die militärischen Aktionen der betreffenden Armee "von der Völkergemeinschaft als den Grundregeln menschlichen Verhaltens widersprechend verurteilt" werden. Es fällt schwer, die offizielle Sichtweise in den Nato-Staaten - bedenkt man allein die Nato-Flugblätter, die den jugoslawischen Soldaten die Alternative "certain death" oder Desertion anboten - dazu in Widerspruch zu sehen.

Für die Zeit des aussichtslosen Verfahrens auf Asylanerkennung sind viele der Flüchtlinge in Sammelunterkünften untergebracht bei meist schlechter Verpflegung und unter indiskutablen hygienischen Bedingungen. Die finanzielle Unterstützung, die ihnen nach drei Monaten gewährt wird, ist lächerlich (umgerechnet ca. acht Mark pro Monat).

Neben denen, die sich illegal in Ungarn befinden, halten sich viele Deserteure deshalb offiziell als Touristen im Land auf, was bedeutet, dass sie alle drei Monate aus- und wieder einreisen müssen, oder beantragen eine auf ein Jahr befristete Duldung. In jedem Fall ist die Möglichkeit, legal einer Arbeit nachzugehen, so gut wie ausgeschlossen. Unterstützung bei seiner Lobbyarbeit - sowohl finanzieller als auch organisatorischer Art - erhält das Haus für Deserteure von NGOs wie amnesty international oder dem Offenbacher Verein Connection sowie von den amerikanischen Friedenskirchen der Quäker und der Mennoniten.

Ob es sich lohnt, etwas von der etablierten serbischen Opposition zu erwarten, mag Zoran O. nicht eindeutig beantworten. Politiker wie Djindjic und Draskovic hätten sich durch ihre dubiosen politischen Manöver in der Vergangenheit kompromittiert und es Milosevic bisher immer leicht gemacht, die Oppositionsfraktionen gegeneinander auszuspielen. Gleichwohl bleibt der Sturz von Milosevics Machtapparat aus Sicht der Deserteure Voraussetzung für eine Wende zum Besseren.

*Name von der Redaktion geändert