Siemensstadt

Hochhäuser, gefüllt mit Indianern

Gefährliche Orte XCVI: Siemensstadt ist eigentlich schon lange tot. Nur begraben hat den Ortsteil im Westen Berlins bisher niemand. Leider! Denn so hoffen die Bewohner auf ein Revival.

Als Fremder kommt man normalerweise nicht nach Siemensstadt. Der Ortsteil wird selbst von Berlinern nur bei der Durchfahrt zum Flughafen Tegel oder nach Spandau genutzt. Kein Wunder: Siemensstadt ist eingeklemmt zwischen Hohernzollernkanal, Spree, Kleingartenkolonien, der Jungfernheide und Fabriken, gehört hier zu Charlottenburg und da zu Spandau, ist unbelebt und bietet auch sonst nichts. Fast scheint es, als sei hier eine Bauaustellung aus den dreißiger und fünfziger Jahren eröffnet, dann aber fluchtartig verlassen worden, sodass sie nun vor sich hingammelt.

Doch der Eindruck täuscht: Es leben tatsächlich Leute in Siemensstadt. Und zwar nicht gerade wenige. Siemensstadt - der Name lässt es kaum anders vermuten - wuchs und gedieh zusammen mit der Firma Siemens. Immer mehr Menschenmaterial wurde benötigt, um den einstigen Berliner Industrieriesen am Leben zu halten, der zusammen mit Borsig und der AEG Berlin zur größten deutschen Stadt werden ließ. In Siemensstadt wurden aber nicht nur immer mächtigere Industriegebäude errichtet, die mit ihrer kühlen und kühnen Architektur demonstrierten, welche Herrlichkeit der Siemens-Konzern in die Welt ausstrahlen wollte und konnte. Zunehmend siedelten sich auch Menschen am Rand von Spandau an. Zunächst willkürlich, dann - soviel Ordnung musste sein - nach einem vom Konzern erdachten Muster.

Walter Gropius und andere namhafte moderne Architekten wurden Ende der zwanziger Jahre bemüht, um dem Siemens-Arbeiter ein soziales Wohnumfeld zu suggerieren. Lang gezogene Großbauten rissen Schneisen in den bis dahin friedlich dahinschlafenden Jungfernwald. Mit Beeten und Grünanlagen wurde das alles zu einer Musterwelt des Fortschritts und der gemeinsamen Hingabe angelegt.

Im Zweiten Weltkrieg wurde ein Teil der famosen Bauten des Kriegsgewinnlers in Asche gelegt. Es folgte der Kalte Krieg, in dem noch einmal ein neues Areal erschlossen wurde und sich wieder modernste Architekten darum bemühten, den Arbeitern Wohnkomfort zu vermitteln. Und dann kam auch noch die Berlinblockade und die Luftbrücke, und trotz allem blieb Siemensstadt ein funktionierenderer Pool voller glücklicher Arbeiterinnen und Arbeiter, die in ihrer durchstandardisierten Welt der Planquadrate einen ruhigen deutschen Feierabend genossen. Tag für Tag.

Doch ihr Gott, der Siemens-Konzern, der bereits vor Kriegsende einen Großteil seiner Produktionsstätten in die späteren westlichen Besatzungszonen verlegt hatte, verlor bald die Lust an seiner Geburtsstadt: In den achtziger Jahren wurde die Konzernzentrale nach München verlegt. Und nun saßen sie in ihren einstmals modernen Wohnzellen - jene, die sich zum Teil bis heute »Siemens-Indianer« nennen. Verlassen nicht mehr nur von allen guten Geistern, sondern auch von Siemens.

Noch immer wartet ein nicht geringer Teil von ihnen darauf, dass sich die Aktiengesellschaft eines Tages besinnen wird: Der Vorstand, die Manager und die Aktionäre werden sich schämen, dass man nicht standgehalten hat zu Frontstadtzeiten und dass man auch bei der feierlichen Wiedererweckung Großberlins nicht die Gunst der Stunde erkannt hat, und es wird beschlossen werden, dass man zurückkehrt zu den Siemens-Wurzeln in Siemensstadt. Und man wird sich bei den treuen Siemensstädtern entschuldigen, dafür, dass man blind war, während jene tapfer ausharrten.

So zumindest hört man in Siemensstadt die Alten reden, wenn sie ihren Utopien freien Lauf lassen. Sonst sehen sie meist traurig zu den Resten der S-Bahngleise hin, die seit gut 20 Jahren unbefahren in der Gegend herumliegen. Die Alten schauen aus denselben Fenstern, aus denen sie bereits seit 40 oder manchmal sogar 60 Jahren schauen. Doch keine fröhlichen Arbeiterinnen und Arbeiter strömen mehr ihrer rückenbrechenden und händezerfetzenden Arbeit zu.

Es ist öde in Siemensstadt: Die Kneipen sind zu. Und die, die noch übrig sind, sind immer voll - aber das macht sie auch nicht attraktiver. Im Einkaufszentrum, das man sich gegönnt hat, stehen viele Läden leer. In diesem Ortsteil ist längst nicht mehr alles zu haben. Auch Hertie hat seine Filiale geschlossen. Jetzt müssen sich die Alten Essen auf Rädern bestellen, denn für eine Fahrt in das nächstgelegene Einkaufszentrum reicht ihre Kraft nicht mehr. Außerdem müsste man dazu ja Siemensstadt verlassen.

Und auch die Industrie-Hochhäuser, die heute noch Nacht für Nacht alles überleuchten und deswegen von echten Siemensstadt-Kindern als Mond angesehen werden, stehen nicht mehr für Arbeit, Wohlstand und Aufstieg. Entweder sind sie leer oder untervermietet. Und selbst wenn sie noch vom Konzern genutzt werden, haben die in ihrem Schatten werkelnden Siemens-Arbeiterinnen und -Arbeiter schon so manchen Kollegen in Frührente oder Arbeitslosigkeit gehen sehen.

Vielen Alten treten die Tränen in die Augen, wenn sie von dem Verfall ihres Mutter- und Vaterkonzerns reden. Dass es der Siemens AG auch ohne die Produktionsstätten in Berlin-Siemensstadt gut geht, können sie nicht verstehen. Denn was Aktienkapital, Grundstücksliegenschaften und ausländische Produktionsstätten erwirtschaften, ist für sie nicht sichtbar. In Straßenzügen, in denen es noch immer so aussieht, als müsste es rund um die Uhr nach Stahl und Öl stinken, ist ein globaler Markt nicht vorstellbar. Die Leute, die sich hier ihre Rente erschuftet haben, hängen an den Maschinen wie die Bauern an ihrer Scholle.

Und auch die Enkel dieser Leute verstehen wenig von den Weiten der Welt. Wenn sie nicht längst mit ihren Eltern in einem anderen Stadtteil leben, dann vergnügen sie sich entweder bei Burger King oder in den Reihen der NPD. Das Siemens-Werk steht feierlich daneben und behauptet Größe. Daher wissen die Jungen hier auch nur: Die Ausländer sind an allem schuld. Als gäbe es geheim gehaltene Arbeitsplätze nur für Ausländer, die in Schächten unter den Türmen und Hallen kräftig und in Hundertschaften weiter produzieren.

Tatsächlich leben inzwischen viele Ausländer in Siemensstadt. Weil jene, die sich auch anderes leisten können, niemals hierherziehen werden (nicht einmal Studenten), man hier aber auch mit einem kleinen Gehalt tatsächlich klasse Wohnungen kriegt - Gropius sei Dank. Allerdings können sich Schwarzhaarige oder Dunkelhäutige hier nachts kaum auf die Straße trauen. Die gehört dann den Nazis. Denn die Trinker sind dann schon zu Hause oder im Koma (oder beides), und die Rentner träumen selig von früher.

Ab 22 Uhr kontrollieren Siemensstadt daher jene, die nach Schuldigen suchen und mangels Opfer irgendwelche Spielplätze verwüsten. Oder in endgültiger Auflehnung gegen die S-Bahn-Brücken pissen. Die Berliner S-Bahn GmbH weiß offensichtlich von diesen Umständen und hat vorgezogen, die bis vor kurzem noch existierende Anschlussbrücke an den Bahnhof Jungfernheide entfernen zu lassen. Damit kann der Bahnhof Siemensstadt nie wieder von glücklichen Lohnabhängigen betreten werden. Die Schienen bleiben überwachsen. Die Alten sterben. Die Nazis trinken sich tot. Andere könnten Glück haben und woanders Wohnraum ergattern. Nur die großen Siemensbauten werden bleiben. Sie stehen unter Denkmalschutz.