Umkämpftes Bündnis

Dass die Nato zehn Jahre nach Ende des Kalten Krieges noch nicht auseinander gefallen ist, liegt vor allem daran, dass sie neue Feinde gefunden hat. Doch die Absetzbewegungen der Europäer nehmen zu.

Markierte der Kosovo-Krieg den Anfang vom Ende der Nato oder war er der erfolgreiche Versuch der USA, die auseinander fallende Allianz wieder unter einem Banner zu versammeln und zu zeigen, wer der Herr im Hause bzw. auf dem Globus ist? Auf dem Treffen der Nato-Außenminister vergangene Woche in Florenz jedenfalls wurde einmal mehr deutlich, dass die Fliehkräfte im Bündnis ein Jahr nach dem Krieg und der Verabschiedung des neuen Strategiekonzeptes immer stärker werden. Doch trotz aller Absetzbewegungen der Europäer: Die USA halten den Daumen drauf.

»Das Bündnis betrachtet sich nicht als Gegner irgendeines anderen Staates«, heißt es in dem Ende April 1999 verabschiedeten Nato-Strategiepapier. Dass die Allianz indes zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges noch nicht auseinander gefallen ist, liegt vor allem daran, dass man neue Feinde gefunden hat: So hat die Nato als Sinn-stiftendes Feindbild die so genannten Schurkenstaaten ausgemacht. Ob Irak, Iran, Jugoslawien oder Libyen - irgendein Diktator, der sich ausnahmsweise mal nicht den Nato-Interessen unterordnet und den man deshalb zur Räson bringen muss, findet sich schließlich immer.

Gleichzeitig hat das Bündnis das Seine dazu getan, die nach der Auflösung des Warschauer Vertrages eigentlich hinfällig gewordene Front im Osten ein paar Hundert Kilometer weiter wieder aufzurichten, wobei die Sowjetunion und ihre einstigen Verbündeten als Feinde abgelöst wurden vom alleinigen Gegner Russland. Darüber können auch alle Lippenbekenntnisse und vordergründigen Partnerschafts-Abkommen zwischen Russland und der Nato nicht hinwegtäuschen: Der Kosovo-Krieg war auch ein Krieg gegen den russischen Einfluss auf dem Balkan. Und durch das Projekt »Partnerschaft für den Frieden«, dem auf der Nato-Tagung in Florenz als 26. Mitglied Kroatien beitrat und das nicht umsonst fast ausschließlich aus ehemaligen Staaten des Warschauer Vertrages besteht, fühlt sich Russland zu Recht regelrecht umzingelt. Zudem legten neun der Partnerschaftsländer - Litauen, Estland, Lettland, Slowenien, die Slowakei, Rumänien, Bulgarien, Albanien und Mazedonien - kurz vor der Tagung in Florenz eine Erklärung vor, in der sie auf eine Nato-Mitgliedschaft bis zum nächsten Nato-Gipfel im Jahre 2002 pochen. Das Militärbündnis würde dann direkt bis an die russische Grenze vorrücken.

Trotz der gemeinsamen äußeren Feinde sind die Interessenkonflikte innerhalb der Nato jedoch in den letzten Jahren deutlich gewachsen: Während die europäischen Mitgliedsländer immer offensiver darauf drängen, den »Europäischen Pfeiler« des Bündnisses zu stärken bzw. gleich ein eigenes Militärbündnis außerhalb der Nato aufzubauen - im Rahmen der EU oder auch der jahrzehntelang darniederliegenden und jetzt wiederbelebten Westeuropäischen Union (WEU) - sind sich auch die USA in Sachen Sicherheitspolitik immer mehr selbst die Nächsten. Mit ihrem Plan, ein Raketenabwehrsystem aufzubauen, das ausschließlich die USA vor Raketenangriffen so genannter Schurkenstaaten schützen soll, hat die Clinton-Administration die Europäer brüskiert. Schließlich würde das neue Krieg-der-Sterne-Programm gegen den ABM-Vertrag von 1972 verstoßen, der Raketenabwehrsysteme grundsätzlich verbietet. Die Folge könnte, so fürchten die europäischen Nato-Staaten, ein erneutes weltweites Wettrüsten sein - ein Wettrüsten, dem sie auf Dauer wahrscheinlich (noch) nicht gewachsen wären, ebenso wenig wie das finanziell darniederliegende Russland oder das wirtschaftliche Schwellenland China.

Obwohl auch die deutsche Regierung zu den klaren Gegnern des Raketenabwehrprojektes zählt, wagt man sich gegenüber den mächtigen USA noch nicht so ganz aus der Reserve. Außenminister Joseph Fischer begnügte sich auf der Konferenz in Florenz damit, »Warnungen« vorzutragen, um gleichzeitig zu versichern, dass die USA in ihrer Entscheidung selbstverständlich völlig frei seien. Ein Positionspapier gegen den Plan der USA, das die Bundesregierung am vergangenen Freitag vorlegte, wird vermutlich nie vom Kabinett beschlossen werden. Und auch beim Deutschlandbesuch von US-Präsident William Clinton in dieser Woche wird das Thema vermutlich nicht offiziell auf der Tagesordnung stehen. Das Raketenabwehrsystem und seine Auswirkungen sollen stattdessen lediglich am Rande einer Konferenz über »Modernes Regieren«, an der auch Clinton teilnehmen wird, behandelt werden.

Trotz aller offenen und versteckten Proteste der Europäer könnte der Raketenabwehrplan der USA dazu angetan sein, die Abhängigkeit der Europäer von der letzten übrig gebliebenen Supermacht weiter zu verstärken und somit den Fortbestand der Nato zu sichern - schließlich haben die USA bei einem möglichen erneuten Wettrüsten die besten Karten, die Europäer könnten sich dann eine weitere Distanzierung von den Vereinigten Staaten kaum mehr leisten. Schon im Kosovo-Krieg haben die Vereinigten Staaten eindrucksvoll ihre militärische Überlegenheit unter Beweis gestellt und nebenbei gleich ein paar neue Waffensysteme wie die Tarnkappenbomber dem Härtetest unterzogen. Das Signal an die Europäer war klar: Ihr führt keinen Krieg ohne uns - auch nicht in Europa.

Schließlich brauchen die USA den alten Kontinent - mal abgesehen von anderen strategischen Erwägungen - weiterhin als wichtigen Brückenkopf für ihre weiter östlich gelegenen Einfluss-Sphären. Und dabei geht es vor allem um den Zugriff auf die Öl- und Gasvorkommen rund um das Kaspische Meer. Zwar hat die Kaukasus- und Zentralasien-Politik der USA jüngst einige Dämpfer bekommen, weil Russland sich in der Region wieder stärker engagiert und die Handelsbeziehungen zu Kasachstan und Turkmenistan erfolgreich reaktiviert hat. Trotzdem bleibt die Region eines der wichtigsten außenpolitischen Handlungsfelder der USA.

Dazu kommt, dass sämtliche Bemühungen der Europäer, eigene Militärstrukturen aufzubauen, bislang kaum mehr als Makulatur sind. Sowohl die WEU als auch die Krisenreaktionskräfte der EU sind bei einem Einsatz weiterhin auf die Infrastruktur der Nato angewiesen - das gilt sowohl für die Waffensysteme als auch für die Kommandostruktur. An den USA führt in Sachen Krieg derzeit noch kein Weg vorbei.

Keine Frage, dass das den Europäern und vor allem der deutschen Regierung ein Dorn im Auge ist. Schließlich hatte Außenminister Fischer erst jüngst in seiner Rede in der Berliner Humboldt-Universität weitere Schritte zur Stärkung der »gemeinsamen außenpolitischen Handlungsfähigkeit« der EU angemahnt und sich und sein Publikum gefragt: »Wie sollte man auf Dauer begründen, dass Staaten, die sich durch die Währungsunion unauflösbar und in ihrer ökonomisch-politischen Existenz miteinander verbinden, sich nicht auch gemeinsam äußeren Bedrohungen stellen und ihre Sicherheit gemeinsam gewährleisten?«

Der deutsche Außenminister steht mit seiner Ansicht in der EU nicht alleine da. Ganz im Gegenteil: Vor allem Großbritannien und Frankreich sprechen sich deutlich für eine Stärkung der Militärmacht Europa aus. Die Briten, weil sie auf militärischem Gebiet die Chance sehen, eine Führungsrolle in Europa zu übernehmen. Die Franzosen, weil die Grande Nation dem US-amerikanischen Einfluss in Europa von jeher kritisch gegenübersteht. Nirgends wird der Aufbau einer eigenen EU-Armee positiver gesehen als in Paris. Präsident Jacques Chirac bot sogar vor fünf Jahren den Deutschen an, die französischen Nuklearstreitkräfte unter ein gemeinsames europäisches Kommando zu stellen. Auch auf der Florenzer Nato-Tagung betonten die Europäer erneut, dass sie sich in Zukunft ein eigenes »Krisenmanagement« zulegen wollen.

Die Vereinigten Staaten denken indes gar nicht daran, ihren Einfluss in Europa weiter zurückdrängen zu lassen: Schon vor Jahren verhinderten sie erfolgreich die Übernahme des Kommandos über die Streitmacht Südeuropa in Neapel durch einen Europäer. Und jüngst machte auch der amerikanische Senat deutlich, dass man keinesfalls einen neuen Isolationismus anstrebt, sondern weiterhin weltweit präsent sein will - auch in Europa, auch militärisch: Die US-Truppen im Kosovo, so entschied der Senat, sollen nicht abgezogen werden. Eine derart wichtige Mission dürfe nicht gefährdet werden. Eine Position, die übrigens nicht nur von den Demokraten Clinton und Al Gore geteilt wird, sondern auch vom republikanischen Präsidentschaftskandidaten George W. Bush.