Der 3. Oktober und die CDU

Kohl soll reden

Biedenkopf wollte sich an Kohl rächen, als er ihn nicht zum Redner der Einheitsfeiern bestellte. Operation misslungen. Kohl spricht in Berlin, und die CDU will mit ihrem Ehrenvorsitzenden wieder Frieden schließen.

Dass er Berührungsängste hätte, das kann man Gregor Gysi nicht vorwerfen. Ganz im Gegenteil. Am liebsten schüttelt er Hände, die andere nicht mit der Beißzange anfassen würden. Als vor mehr als einem Jahr Nato-Kampfflugzeuge jugoslawische Eisenbahnbrücken, Fernsehsender und Schulbusse ins Visier nahmen, machte sich Gysi nach Belgrad auf und ließ sich dort zusammen mit Slobodan Milosevic ablichten. Jetzt hat der Chef der PDS-Fraktion im Bundestag wieder einem die Hand geschüttelt, um den derzeit viele lieber einen Bogen machen: Helmut Kohl. Wie sein Sprecher Reiner Oschmann jüngst mitteilte, hat Gysi sich in den vergangenen Monaten mehrfach mit dem Ex-Kanzler getroffen, um in trauter Runde über die deutsch-deutsche Geschichte zu parlieren. Was Gysi da mit seinem »formidablen politischen Konkurrenten« (Gysi über Kohl) besprochen hat, ist unbekannt. Der demokratische Sozialist hat aus diesen Gesprächen aber zumindest eine Erkenntnis mitgenommen: Der Kanzler der Einheit solle gefälligst Rederecht erhalten, wenn am 3. Oktober in Dresden feierlich der zehnte Jahrestag der deutschen Vereinigung begangen wird.

Genau das verweigerte der Gastgeber des offiziellen Festaktes, der sächsische Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf, Kohl. Er wollte den Ex-Kanzler nicht ans Rednerpult lassen, wenn am 3. Oktober in der Dresdner Semperoper feierlich der Kolonisierung der deutschen Ostgebiete gedacht wird. Er wollte Kohl stattdessen lieber als stummen Zuschauer in die erste Sitzreihe verbannen. Mit dieser gezielten Degradierung hat Biedenkopf heftige Diskussionen vor allem in seiner eigenen Partei ausgelöst. Dass ausgerechnet der Kanzler der Einheit in Dresden nicht sprechen soll, der einstige Chef der Ost-CDU, Lothar de Maizière, aber schon, sei »überhaupt nicht nachvollziehbar«, befand etwa der CDU-Politiker Heinz Eggert. »Der zehnte Jahrestag der deutschen Einheit wird verfehlt und unwürdig begangen«, beschwerte er sich gegenüber der Welt.

Biedenkopf rächt sich damit für die Schmach, die er einst von Kohl erfahren musste. Denn eigentlich waren die beiden heutigen Intimfeinde einst vom Großkapital als schwarze Doppelspitze vorgesehen, um nach der sozialdemokratischen Regierungsübernahme Anfang der siebziger Jahre die CDU wieder zurück an die Macht zu bringen. Der skrupellose Machtmensch Kohl als Vorsitzender, dahinter der intellektuelle Vordenker Biedenkopf als Generalsekretär - dieses Doppelgespann sollte der SPD/FDP-Regierung den Garaus machen. Als Strippenzieher im Hintergrund fungierte der Gummifabrikant, »Arisierungskönig« und Sklaventreiber von Trzebinia, Lodz und Auschwitz, Fritz Ries (Jungle World, 03/00): Auf dessen österreichischem Feriendomizil Schloss Pichlarn trafen sich regelmäßig Unionspolitiker und Wirtschaftsgrößen, um die Machtübernahme zu planen. »Angeführt von Dr. Hanns Martin Schleyer, dem Flick-Vertrauensmann, Daimler-Benz-Personalchef und Präsidenten von BDI und BDA, setzten die großen Bosse schon damals nicht mehr auf Franz Josef Strauß, sondern bereits auf ein 'Tandem', ein Zweiergespann, bei dem einer durch kräftiges Strampeln die Antriebskraft liefern sollte, der andere die Denk- und Lenkaufgaben zu meistern hätte«, schreibt Bernt Engelmann in seinem Buch »Großes Bundesverdienstkreuz mit Stern« über die auf Schloss Pichlarn Mitte der siebziger Jahre getroffenen Absprachen.

Das Duo Kohl-Biedenkopf funktionierte jedoch nur, solange Fritz Ries noch lebte. Nachdem der politische Ziehvater von Helmut Kohl jedoch 1977 mit seinem Pegulan-Konzern pleite ging und sich bald darauf das Leben nahm, zerbrach auch die CDU-Doppelspitze - einer wie Kohl duldet niemanden neben sich. Biedenkopf, der übrigens mit der Ries-Tochter Ingrid Kuhbier verheiratet ist, wurde abgesägt und durfte erst nach der Wiedervereinigung wieder ein politisches Comeback starten - als im Osten ausreichend Posten für abgehalfterte Westpolitiker frei wurden.

Die Chance zur Rache kam spät, aber immerhin: Weil die alljährlichen Einheitsfeiern am 3. Oktober stets von dem Bundesland ausgetragen werden, das gerade die Präsidentschaft im Bundesrat inne hat, war diesmal Sachsen an der Reihe. Und der einstige CDU-General nahm dankbar die Gelegenheit wahr, seinem Erzfeind Kohl endlich auch mal eins auszuwischen. Doch am Schluss blieb Kohl wieder Sieger: Er sagte seine Teilnahme einfach ganz ab und konnte sich dabei noch einmal so richtig staatsmännisch geben: »Nicht Einzelpersonen, sondern die Sache sollte im Mittelpunkt stehen«, ließ er in einer Erklärung verbreiten. »Daher werde ich an dem Festakt in Dresden nicht teilnehmen.«

Biedenkopfs Coup ging gleich in zweifacher Hinsicht schief. Denn obwohl Kohls Verwicklungen in die illegale Finanzierungspraxis der CDU auch in der vergangenen Woche wieder für zahlreiche Schlagzeilen sorgten, hat die Diskussion um seine Teilnahme an der Einheitsfeier nicht etwa dazu geführt, dass Kohl bei den Christdemokraten weiter isoliert wurde. Die CDU ist vielmehr dabei, wieder Frieden mit ihrem Ehrenvorsitzenden zu schließen. Vergangene Woche versöhnte sich auch Angela Merkel mit Kohl: Die CDU-Vorsitzende rief ihren Vorgänger eigens in seinem Feriendomizil am Wolfgangsee an, um ihn zur CDU-Einheitsfeier in Berlin einzuladen, die zwei Tage vor dem offiziellen Dresdner Festakt stattfinden wird. Und Kohl, der noch kurz zuvor die Teilnahme verweigert hatte, ließ sich von »seinem Mädchen« (Kohl über Merkel) gerne überreden. Wenn es nach dem CDU-Fraktionschef im Bundestag, Friedrich Merz, geht, dann soll Kohl demnächst auch bei der Bundestagsdebatte über zehn Jahre deutsche Einheit sprechen - und zwar ganz offiziell als Redner der CDU-Fraktion.

Für Kohl ist also wieder alles im Lot. Juristische Folgen braucht er ohnehin kaum zu fürchten, auch wenn ihn der einstige Generalbevollmächtigte der CDU-Schatzmeisterei, Uwe Lüthje, jüngst schwer belastet hatte. In einer schriftlichen Erklärung an den Bundestagsuntersuchungsausschuss zur CDU-Spendenaffäre erklärte Lüthje, dass Kohl über das gesamte illegale Kontensystem der CDU bestens informiert gewesen sei: »Ich habe nicht eigenmächtig ohne Zustimmung von Herrn Dr. Kohl als Parteivorsitzenden gehandelt.«

Lüthje hat offenbar keine Lust mehr, den Kopf für seinen einstigen Chef hinzuhalten, wie er es schon einmal 1986 getan hat: Um Kohl einen Prozess wegen Falschaussagen im Zusammenhang mit der Flick-Affäre zu ersparen, habe er damals vor der Bonner Staatsanwaltschaft gelogen, sagt Lüthje heute. Kohl, der seit der Flick-Affäre für seine Blackouts bekannt ist, streitet natürlich alles ab: Auf die Aussage seines einstigen engen Vertrauten reagierte er mit einem Rundumschlag: Bundesregierung, Koalitionsparteien und Medien hätten ein »Rufmordkartell« gebildet, um ihn zu kriminalisieren und sein politisches Ansehen im In- und Ausland zu zerstören.

Aber warum regt sich der Altkanzler so auf? Gegen ihn laufen derzeit zwar Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Untreue und des Betrugs. Doch wenn überhaupt ein Prozess stattfinden sollte, wird Kohl höchstwahrscheinlich mit einer Geldstrafe davonkommen. Und sollte diese Strafe tatsächlich hoch ausfallen - bei Geldschwierigkeiten kann sich Kohl auf seine Spezl, etwa den Medienmogul Leo Kirch, jederzeit verlassen. Das hat sich bereits bei seiner Sammelaktion für die CDU gezeigt, als binnen kurzer Zeit mehr als acht Millionen Mark zusammenkamen.

Doch um auf Gregor Gysi zurückzukommen: Man kann ihm nur Recht geben. Kohl sollte auch auf der offiziellen Einheitsfeier in Dresden sprechen. Wer, wenn nicht Kohl, verkörpert den deutschen Einigungsprozess? Wer, wenn nicht Kohl, hat unseren Brüdern und Schwestern im Osten gezeigt, wie Kapitalismus funktioniert?

Die feindliche Übernahme der DDR, die Abwicklung der ostdeutschen Industrie zu Gunsten westdeutscher Konzerne, die Mobilisierung des nationalen Mobs durch gezielte Kampagnen gegen Asylbewerber und Flüchtlinge, Machtbesessenheit, Schmiergelder und schwarze Konten - für all das steht Helmut Kohl. Und deshalb soll er reden. Die Ehrengäste in der Dresdner Semperoper sollen kriegen, was sie verdienen.