Kräftemessen an Yom Kippur

Die Ausschreitungen der letzten beiden Wochen und Israels Reaktionen darauf haben den Nahen Osten an den Rand eines Krieges gebracht.

Steht der Nahe Osten 27 Jahre nach dem Yom-Kippur-Krieg vor einer neuen kriegerischen Auseinandersetzung? Am Wochenende jedenfalls deutete einiges darauf hin. Nachdem die Situation seit Beginn der Gewalttätigkeiten am 28. September trotz engagierter Vermittlungsversuche von US-amerikanischer und auch europäischer Seite eskaliert ist, hat Israels Ministerpräsident Ehud Barak dem Palästinenser-Präsidenten Yassir Arafat ein Ultimatum gestellt: Entweder Arafat sorgt für ein Ende des palästinensischen Aufstandes bis Montagabend oder Barak werde den Friedensprozess als »durch Arafat beendet« betrachten. Die israelische Armee werde dann mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln palästinensische Angriffe beantworten. Zugleich begann Barak mit den Vorbereitungen für eine Regierungskoalition des »nationalen Notstandes«, an der neben seiner sozialdemokratischen »Ein Israel«-Partei auch der rechtskonservative Likud-Block, die sephardisch-religiöse Shas-Partei sowie verschiedene kleinere Parteien der Rechten und der Linken beteiligt werden sollen.

Zuvor hatten die Auseinandersetzungen auch auf das israelisch-libanesische Grenzgebiet übergegriffen. Die islamistische Hisbollah-Miliz griff am Samstag erstmals seit dem israelischen Abzug aus dem Südlibanon im Mai dieses Jahres wieder israelische Stellungen im Norden Israels und auf den Golan-Höhen an. Auch Raketen kamen dabei zum Einsatz. Mehrere Hundert Libanesen und Palästinenser versuchten, den Zaun an der Grenze zu Israel zu durchbrechen.

Während der Kämpfe, bei denen mehrere Libanesen und Palästinenser getötet wurden, gelang es der Hisbollah, drei israelische Grenzsoldaten zu entführen. Die Hisbollah will mit ihnen in Israel inhaftierte Mitglieder der Islamistenpartei freipressen. Sollten die Bemühungen zur Freilassung der Soldaten auf diplomatischer Ebene nicht schnell zum Erfolg kommen, ist zu befürchten, dass Israel mit Vergeltungsschlägen auch gegen die libanesische Hauptstadt Beirut antworten wird. Denn Barak hat - nach dem von ihm befohlenen Rückzug aus dem Südlibanon mit einigem Recht - unmissverständlich klargestellt, dass Israel diese Angriffe als feindselige Akte betrachtet, für die es den libanesischen Staat und dessen Schutzmacht Syrien verantwortlich macht.

Unterdessen fuhren erneut Panzer an strategisch wichtigen Punkten in den besetzten Gebieten auf, und auch in Jerusalem selbst wurden erstmals seit 1967 Panzer zum Schutz jüdischer Wohngebiete postiert. In der Westbank und im Gaza-Streifen hielten am Sonntag die blutigen Auseinandersetzungen an, bei denen mehrere Menschen ums Leben kamen. Zudem wurden von israelischer Seite, wie bereits zu Anfang der Woche, Apache-Kampfhubschrauber zur Bekämpfung palästinensischer Heckenschützen eingesetzt. Die israelische Armee verlängerte das bereits sechs Tage zuvor verhängte Einreiseverbot nach Israel für die meisten Palästinenser aus den besetzten Gebieten, während die palästinensische Autonomiebehörde für die von ihr verwalteten Gebiete den Ausnahmezustand ausrief.

Auch im israelischen Kernland dauerten die Gewalttätigkeiten an. Zunehmend beteiligten sich daran neben israelischen Arabern auch jüdische Israelis. Im Gegensatz zur Intifada, die vor zehn Jahren im Wesentlichen in den besetzten Gebieten stattfand, hatten die jüngsten Auseinandersetzungen bereits Anfang letzter Woche auch auf die wichtigsten Siedlungsgebiete der israelischen Araber übergegriffen. Die schwersten Kämpfe gab es dabei in den größten arabischen Städten Nazareth und Umm al-Fahm in Nordisrael. Auch hier waren mehrere Tote zu beklagen.

Ob Barak mit dem Ultimatum ein produktives Mittel gewählt hat, ist sicherlich zweifelhaft. Immerhin hat er auf diese Weise klar gemacht, dass für ihn ein baldiges Abkommen mit Arafat wegen des anhaltenden Blutvergießens in Frage gestellt ist. Auf einer Pressekonferenz am Samstagabend hatte Barak wiederholt betont, dass er weiterhin zu tief greifenden Konzessionen bereit sei, aber nicht wisse, ob er noch einen Partner für einen umfassenden Frieden habe. Nachdem Barak bislang sein politisches Überleben von einem solchen Durchbruch abhängig machte, versucht er nun offenbar, im letzten Moment von seiner Rücktrittsdrohung abzurücken.

Baraks Zweifel sind nicht von der Hand zu weisen. Die palästinensische Führung weigert sich hartnäckig, offiziell zu einem Ende der Unruhen aufzurufen. Beim Gipfeltreffen in Paris am vergangenen Mittwoch hatte Arafat die Unterzeichnung eines Waffenstillstandsabkommens mit der Begründung verweigert, Israel müsse zunächst der Einsetzung einer internationalen Kommission zur Untersuchung des Vorgehens der israelischen Armee zustimmen. Trotzdem hatte das israelische Militär am Tag darauf zunächst seine schweren Waffen wieder an ihre früheren Positionen zurückgezogen.

Als die islamistische Hamas-Bewegung dann den Freitag zum »Tag des Zorns« erklärte, wurde immer offensichtlicher, dass Arafat Unruhen nicht kontrolliert. Zwar versuchten nach dem Ende des Freitagsgebets ranghohe palästinensische Politiker, darunter Jerusalem-Minister Feisal Husseini, die Menge zu beruhigen. Doch auch sie konnten nicht verhindern, dass betende Juden auf dem Platz vor der Klagemauer - unterhalb des Tempelberges - erneut von oben mit Steinen und Felsbrocken beworfen wurden. Währenddessen hatten israelische Armee und Polizei sich auffällig zurückgehalten und waren nur kurzzeitig auf den Tempelberg vorgedrungen.

Diese Ereignisse zeigen, dass Arafat womöglich keine andere Wahl mehr hat, als die gewaltsamen Proteste öffentlich zu rechtfertigen. Dabei weiß er auch die üb-rige arabische Welt hinter sich. So kam es

im Laufe der vergangenen Woche in Damaskus, Kairo, Bagdad, Beirut und anderen großen Städten zu antiisraelischen Demonstrationen. Für Ende des Monats ist ein arabisches Gipfeltreffen in Kairo angesetzt, an dem auch die Delegierten des notorischen Antisemiten Saddam Hussein erstmals seit dem Golfkrieg wieder teilnehmen werden.

Noch wichtiger scheint für Arafat aber zu sein, dass auch der Uno-Sicherheitsrat am Samstag in einer lange umstrittenen Resolution den »exzessiven Einsatz von Gewalt gegen Palästinenser« geißelte. Die USA hätten mit ihrem Veto-Recht die Entschließung verhindern können, beschränkten sich aber darauf, die Erwähnung Israels in dem Text zu verhindern. In dieser prekären Situation bekam Israel also auch von seinem wichtigsten Verbündeten einen Schuss vor den Bug.

Den Ausschlag für Baraks Kehrtwende aber mag ein Ereignis in der Westbank-Großstadt Nablus gegeben haben. Am so genannten Josephsgrab, einer heiligen jüdischen Stätte, wo es aber im Gegensatz zum Grab Abrahams in Hebron keine jüdische Siedlung, sondern lediglich einen Armeeposten gibt, war es im Laufe der vergangenen Woche zu mehreren Toten gekommen. Barak hatte daraufhin in Absprache mit der Armeeführung für Samstagmorgen den Abzug der israelischen Soldaten befohlen, im Vertrauen darauf, dass die palästinensische Polizei den Schutz der Stätte übernehmen werde. Bereits kurz nach dem israelischen Abzug aber stürmten mehrere Dutzend Palästinenser das Grabmal, verwüsteten die Inneneinrichtung und legten Feuer.

Baraks Befürchtung, ihm könne der Verhandlungspartner für den Friedensprozess abhanden kommen, hat sich schon jetzt bewahrheitet. Ob hingegen Arafat lediglich vor sich verselbstständigenden Unruhen kapituliert hat oder ob er tatsächlich der Meinung ist, auf diese Weise seine Ziele besser erreichen zu können, als es in den bisherigen Verhandlungen der Fall war, wird sich erst in den nächsten Tagen zeigen.