Ercan Kanar, Rechtsanwalt, zur Situation in türkischen Gefängnissen

»Die Radikalen sollen beseitigt werden«

»Die weltweite Ächtung der Todesstrafe ist ein Kernziel der Bundesregierung«, erklärte letzte Woche Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin. Ihr türkischer Gast und Amtskollege, Hikmet Sami Türk, würde gar nicht widersprechen. Denn getötet wird in Istanbul und Ankara meistens ohne Urteil, wie bei der Erstürmung der Gefängnisse im Dezember (Jungle World, 02/01). Die Lage hat sich noch nicht entspannt: Politische Gefangene führen ihren Hungerstreik in mehreren Haftanstalten fort, während einige Anwälte und Intellektuelle auf einen Kompromiss mit der Regierung drängen. Einer von ihnen ist Rechtsanwalt Ercan Kanar, bis 1998 Vorsitzender des Menschenrechtsvereins (IHD) in Istanbul.

Zwei Monate nach der Stürmung der türkischen Gefängnisse wird über die dortige Situation kaum noch berichtet. Hat der Staat die Lage befriedet?

Im Gegenteil. Die Situation hat sich nach dem Angriff noch verschärft. So stieg die Zahl der Todesfastenden von 200 auf 600, die Zahl der Hungerstreikenden verdoppelte sich auf 2 000. Andererseits hat der Staat sein Ziel erreicht. Die F-Typ-Gefängnisse - das sind reine Isolationshaftanstalten - wurden früher als geplant zur Realität. Wir fordern immer noch die Abschaffung dieser Gefängnisse, auch wenn das vorerst nicht auf der Tagesordnung steht.

Wie ist dort die Lage?

In den drei F-Typ-Gefängnissen herrscht totale Isolation. Für gemeinsame Aktivitäten wie Essen, Sport oder Bibliotheksbesuche sind nicht mal die baulichen Voraussetzungen gegeben. Manche Gefangene sind selbst beim Hofgang allein. Fernsehen oder Radio gibt es nicht. Nur solche Zeitungen sind erlaubt, die die Gefängnisleitung für unbedenklich hält. Obwohl das Militär gesetzlich nur für die äußere Sicherheit der Gefängnisse zuständig ist, hat etwa in Edirne ein Oberst in allen Fragen die oberste Autorität.

Können Anwälte und Angehörige die Gefangenen besuchen?

Ja, allerdings unter sehr schwierigen Umständen. Angehörige und Anwälte sind zermürbenden und entwürdigenden Leibesvisitationen ausgesetzt; sogar Slipeinlagen werden kontrolliert. Die Gesprächszeiten sind äußerst knapp bemessen, unsere Unterlagen dürfen wir nicht mitnehmen.

Wie ist der Gesundheitszustand der Gefangenen?

Die medizinische Versorgung ist unverändert schlecht. Viele Gefangene leiden wegen der Isolationshaft unter psychischen Störungen; es kam bereits zu Selbstmordversuchen. Mehrere Personen wurden zwangernährt. Einige aus den ersten drei Gruppen des Todesfastens haben bereits den kritischen Punkt erreicht. Jeden Tag kann es zu Toten kommen.

Konnte der Staat so hart durchgreifen, weil er von Anfang an nur mit geringem Widerspruch rechnete?

Die Regierung konnte die Medien für ihre Desinformationskampagne gewinnen, während die oppositionellen Kräfte es lange versäumten, in der Gefängnisfrage Öffentlichkeit herzustellen. Dennoch wuchs in der ersten Dezemberwoche der Protest gegen die Isolationshaft, sogar Kolumnisten großer Tageszeitungen äußerten Kritik am F-Typ. Um den 9./10. Dezember erfolgte aber - bedingt durch die Verhängung einer Nachrichtensperre sowie den Überfall auf einen Polizeibus - ein Umschwung der öffentlichen Meinung.

In diesen Tagen verkündete Justizminister Türk, mit der Einführung des F-Typs vorerst zu warten. War das nur ein Manöver, um von den Vorbereitungen einer Miliäroperation abzulenken oder hätten die Gefangenen an diesem Punkt nicht eine Eskalation verhindern können?

Man kann darüber streiten, ob sie mit einer flexibleren Politik das Schlimmste hätten abwenden können. Jedenfalls sah sich Türk wegen des öffentlichen Drucks zu dieser Erklärung gezwungen. Die Gefangenen forderten, die informelle Übereinkunft über die Vergrößerung der Zellen und die Schaffung von Gemeinschaftsräumen in den F-Typen offiziell bekannt zu geben. Das Justizministerium lehnte dies ab, womit auch der Gesprächsfaden abriss. Die vom Nationalen Sicherheitsrat und dem Innenministerium angeführte Fraktion hatte sich mit ihrem Drängen auf eine militärische Lösung durchgesetzt.

Der Angriff auf die Gefängnisse war begleitet von einem Vorstoß der Armee in Südkurdistan und von einem alle Gleichheitsgrundsätze verletzenden Straferlass. Immerhin haben wir nun eine klare Antwort auf die Frage, ob die Türkei Fortschritte auf dem Weg zu Demokratie, Menschenrechten und Frieden gemacht habe: Die Entwicklung ist entgegensetzt. Der Angriff auf die Gefängnisse war eine Warnung an die Gesellschaft.

Warnung? Bei der Bevölkerung ernteten die Aktionen doch Applaus.

Aber nur, weil es der Opposition nicht gelingt, Alternativen zur Staatsideologie anzubieten, die Massen aufzuklären und sie für den Kampf um demokratische Rechte zu gewinnen.

Müsste es einem Vertreter des IHD nicht zu denken geben, dass die Stürmung der Gefängnisse mit Billigung der USA und der EU erfolgte? Schließlich hat Ihr Menschenrechtsverein stets »europäische Standards« gefordert, und diese sind bei den F-Typ-Gefängnissen ja erfüllt.

Als ehemaliger Verantwortlicher des IHD bedaure ich, dass dieser seit einigen Jahren als EU-Propagandist auftritt. Aber auch eine direkt gegen den EU-Beitritt gerichtete Politik wäre falsch. Die Aufgabe einer Menschenrechtsorganisation muss darin liegen, überall Menschenrechtsverletzungen zu kritisieren, auch in der EU.

Der Staat beruft sich ebenfalls auf die Menschenrechte der Gefangenen.

Allein die 32 Todesopfer der Angriffs zeigen doch, dass es nicht darum ging, Menschenleben zu retten. Nach den Autopsieberichten wurden mindestens 26 von ihnen von Sicherheitskräften erschossen oder verbrannt, bei zwei weiteren ist die Todesursache unklar. Sich selbst entzündet haben nur vier Gefangene.

Aber schon das müsste einen Verfechter der Menschenrechte doch befremden, ebenso wie das Gerede vom »Todesfasten« oder von den »unsterblichen Märtyrern« ...

Ich habe Begriffe wie »Märtyrer« und »Held« stets als voluntaristische Übertreibungen abgelehnt. Beim Kampf um Menschenrechte geht es darum, eine Politik zu entwickeln, in deren Mittelpunkt das Recht auf Leben steht. Man muss bedenken, dass die Inhaftierten in einer Situation mit dem Todesfasten begannen, in der sie ihre Grundrechte gegen die staatlichen Attacken verteidigen wollten, in der Öffentlichkeit aber auf Desinteresse stießen. Daher müssen wir zunächst Selbstkritik üben. Wäre es uns gelungen, in der Gefängnisfrage die Initiative zu ergreifen, wären Aktionen wie das Todesfasten auch nicht unbedingt nötig gewesen.

Wie ist jetzt die Stimmung?

Der Staat betrachtet die Gefangenen nicht länger als Verhandlungspartner. Man geht davon aus, den vermeintlich Besiegten jede Bedingung aufzwingen zu können. Indes ist die Stimmung der Gefangenen nicht schlecht. Sie glauben, dass sie im Recht sind und kämpfen weiter. Objektiv aber muss man - nicht nur in Bezug auf die Gefängnisse - den wohl schwersten Rückschlag seit dem Militärputsch von 1980 konstatieren. Der militärische Krisenstab, der Istanbul tagelang regierte, die Schließung oppositioneller Einrichtungen, Massenfestnahmen und die bis heute andauernde Nachrichtensperre erinnerten an Putschverhältnisse. Das Ziel ist es, die radikale Opposition zu zähmen oder zu beseitigen. Aber trotz der momentan gedrückten Stimmung glaube ich, dass sich die Opposition erholen wird.