Die Folgen der Anschläge auf die USA

Alles auf Kursk

Der islamistische Terror und die Selbstversenkung der radikalen Linken.

Die Selbstmordattentate vom 11. September haben nicht nur die Twin Towers gesprengt, sie sprengen auch das politische Bezugssystem. Nicht dass der Politik eine Scheu vor Leichenbergen anzudichten wäre, aber sie pflegt eine instrumentelle Beziehung zu Gewalt und Massenmord. Weniger die schiere Opferzahl macht die besondere Monstrosität der New Yorker Ereignisse aus, als vielmehr der Bruch mit der Logik politischer Gewaltanwendung, das Selbstzweckhafte der Untat. Von einem Gegner herausgefordert, der das politische Universum verlassen hat, reagiert die offizielle Politik, wie sie immer reagiert, wenn ihre historische Schranke sichtbar wird. Sie spult ihr Programm ab und versucht, mit politisch-militärischen Maßnahmen zu antworten, wo es politisch-militärische Lösungen nicht geben kann. Wenigstens auf Seiten der politisch Verantwortungslosen scheinen 300 Jahre Aufklärung indes einen gewissen Restverstand übrig gelassen zu haben. In die Angst vor dem Verlust der warengesellschaftlichen Normalität mischt sich durchaus so etwas wie eine Ahnung von der neuen Qualität der Konfrontation hinein.

Ein kleines Öffentlichkeitssegment freilich zeigt sich gegen jeden Anflug von kritischem Bewusstsein immun: die radikale Linke. Nicht nur der antiimperialistische Flügel hat sich angesichts der New Yorker Ereignisse kaum mit theoretischem Ruhm bekleckert. Auch die Gegenposition steht über weite Strecken unter einem obskuren identitätspolitischen Vorzeichen.

Seit Jahr und Tag sind die Antideutschen damit beschäftigt, die eklatanten Defizite der linken Szene in Sachen Antisemitismus offen zu legen. Dieses an sich verdienstvolle Unterfangen hat sich bei Teilen des Spektrums allmählich zu einer identitären, Mehrwert stiftenden Obsession verselbständigt. Die Auseinandersetzung mit der Shoah dient als omniparate Welterklärung, womit die Kritik am antisemitischen Wahn Züge einer inversen Ausformung des Kritisierten gewinnt. Mit der Nazivergangenheit im Rücken ist es dem ultradeutschen Flügel der Antideutschen gelungen, sich gerade gegenüber dem intellektuell etwas arrivierteren linken Spektrum zur moralischen Instanz aufzuschwingen und folgende inhaltliche Vorgaben durchzusetzen: Die globalisierungskapitalistische Wirklichkeit ist immer unter dem Erkenntnis leitenden Gesichtspunkt der deutschen Ideologie und des eliminatorischen Antisemitismus zu betrachten. Wer irgendeine Gelegenheit auslässt, diesen Gesichtspunkt zum analytischen Angelpunkt zu erklären, macht sich mindestens der Verharmlosung schuldig.

Spätestens die Kommandoerklärungen der Bahamas-Redaktion zum 11. September markieren den Umschlag dieser Tendenz in offenen Sektenirrsinn. Das Schrille am originären Überschnappen der bombengeilen Hardcore-Fraktion dürfte außerhalb der unmittelbaren Bekenntnisgemeinde zwar kaum jemanden verborgen geblieben sein, die geistige Geiselhaft hat damit aber noch nicht ihr Ende gefunden. Die Jungle World-Redaktion zumindest hielt sich bei ihrer vorläufigen Positionsbestimmung zum Konflikt zwischen »westlicher Zivilisation« und »islamistischem Terror« an die obige Direktive.

Den Antiimperialisten hat die Huntington-Linke zwei Einsichten voraus. Sie weiß um den irrationalen Selbstzweckcharakter der Selbstmordattentate. Ihr ist fernerhin klar, dass dieses Merkmal auch die Shoah auszeichnete und diese damit aus den üblichen Begleitgräueln in der Durchsetzungsgeschichte der Warengesellschaft heraushob. Dann aber wird es wild. Die Anti-Antisemiten unterstellen, das Irrationale habe in dem aus der deutschen Geschichte bekannten eliminatorischen Antisemitismus seine einzige und wesentliche Gestalt gefunden, und flugs wissen sie über den islamistischen Terror Bescheid und natürlich ebenso über dessen Bekämpfung. Die westliche Zivilisation muss gegen die islamistisch-deutsche Kultur antreten und sie mit den gleichen Mitteln in die Schranken weisen wie weiland die nationalsozialistischen Mörder.

Der Sprachregelung der Jungle World-Redaktion nach handelt es sich bei der Kamikazeaktion gegen das World Trade Center fraglos »um einen antisemitischen Anschlag«. Das Fehlen einer Konjunktion reicht, um eine richtige Feststellung in baren Unsinn zu verwandeln. Natürlich spielt der Hass auf den Staat Israel eine wichtige und antisemitische Motive eine gewisse Rolle in der ideologischen Gemengelage, die den Islamismus ausmacht. Dass sie für die Wahl des World Trade Center und des Pentagon als Angriffsziel entscheidend waren und mit dem Selbstmordattentat in erster Linie »die Juden in Israel endlich ins Meer getrieben werden sollten« (Jungle World, 40/01), ist aber an den Haaren herbeigezogen.

Die Bellizisten schlagen einen alarmistischen Ton an. Der Sache nach läuft ihre Position allerdings auf eine doppelte Verharmlosung hinaus. Den islamistischen Terror auf eine Ebene mit der Vernichtung der europäischen Juden zu heben, heißt, die Shoah zu relativieren. Umgekehrt dimensioniert die Gleichsetzung auch den barbarisch-irrationalen Auflösungsprozess, dem die Weltwarengesellschaft heute unterliegt, grotesk herab. Das Irrationale speist sich heute aus vielfältigen Quellen, nicht nur antisemitischen.

Grundlegende Unterschiede zwischen dem nationalsozialistischen Vernichtungsprogramm und dem islamistischen Selbstmordterror sind unmittelbar zu erkennen. Bei der Shoah handelte es sich um die dunkle Rückseite volksgemeinschaftlich-nationaler Formierung und Durchstaatlichung. Der vernichtungsbürokratische Charakter war ihr Wesensmerkmal und nichts Äußerliches. Der Islamismus dagegen ist insgesamt das Folgeprodukt gescheiterter laizistisch-nationalstaatlicher Modernisierung, und die Karriere von al-Qaida und Co. innerhalb der islamistischen Strömung wiederum setzte genau mit dem Scheitern des Islamismus als politischer Bewegung ein. Anfang der neunziger Jahre schien dieser in diversen islamischen Ländern (man denke nur an Algerien) unmittelbar vor der Regierungsübernahme zu stehen. Mittlerweile ist der Islamismus längst zur Deckideologie von Warlords degeneriert und zum Selbstbehauptungsprogramm desorientierter Greencardbesitzer. Der Antisemitismus der Nazis konnte bei seinem Feldzug gegen das »anationale jüdische Element« an eine tief in der abendländischen Ideologie- und Mentalitätsgeschichte verwurzelte Tradition anknüpfen; im islamischen Raum fehlt ein entsprechender Vorlauf. Antisemitismus taucht hier überhaupt erst im Laufe des 20. Jahrhunderts auf. Die Feinderklärung an das »Judentum« gilt überdies vor allem anderen einem jüdischen Nationalstaat, eine mit dem europäischen Antisemitismus überhaupt nicht vergleichbare Konstellation.

Angesichts der Trümmerbilder aus Manhattan verabschieden sich die antideutschen Zivilisationsverteidiger explizit oder implizit von der Singularität des Holocaust. Dieses pikante Selbstdementi wird durch einen Themenwechsel notdürftig kaschiert. Statt die Anschläge oder die Entwicklung der islamistischen Strömung als solche ins Blickfeld zu nehmen, watschen die Antideutschen mal zu Recht, mal zu Unrecht die fragwürdigen, teilweise tatsächlich mit antisemitischen Ressentiments kompatiblen Reaktionen der hiesigen Szene ab. Im besten Fall schaut man über den engsten Szenetellerrand hinaus und unterwirft die kriegsskeptischen Strömungen im Land insgesamt der obligaten Rasterfahndung nach antisemitischen und deutschnationalen Untertönen. (Seltsamerweise erscheint dabei die in sämtlichen europäischen Staaten vorhandene Distanz gegenüber der US-Politik als deutsches Sonderphänomen.) Nachdem diese Art von Ideologiekritik die ziemlich bunte Motivlage unter den hiesigen Kriegsskeptikern glücklich auf das deutsch-antisemitische Ressentiment reduziert hat, versteht sich im Umkehrschluss das antideutsche Bekenntnis zur westlichen Zivilisation ganz von alleine.

Mit seinen realanalytischen Ambitionen ist der wertkritische Ansatz für diese Sorte Ideologiekritik ein einziges Ärgernis. Aber sie hat ihre Methoden, mit diesem Querschläger fertig zu werden. Sieht man von purer Denunziation einmal ab, dann besteht der einfachste Weg darin, auf eine verkürzte personalisierende Kapitalismuskritik einzuprügeln und so zu tun, als wäre die Wertkritik gleich miterledigt. Ein bisschen raffinierter geht es aber auch. Dass Analyse nun einmal einen fiktiven Standpunkt außerhalb des Analysierten beziehen muss, wird als das Einnehmen einer Haltung, die über die den Dingen steht, genommen. Damit lässt sich die vom eigenen Proamerikanismus abweichende Parteinahme für alle Opfer irrationaler Gewalt zu einer in der gegebenen Situation unmoralischen Neutralitätserklärung verdrehen.

Schon einmal leitete anti-antisemitische Hysterisierung eine große Absetzbewegung ein, die ehemalige Gegner des Kapitalismus heim in die westliche demokratische Wertegemeinschaft führte. Während des zweiten Golf-Kriegs wussten die Überläufer, was sie taten; diesmal ist das nicht unbedingt zu unterstellen. Die Forderung, die Linke müsse erst einmal für den Kapitalismus gegen dessen Feinde Partei ergreifen, geht wohl tatsächlich mit der Annahme einher, es mit einer Ausnahmesituation zu tun zu haben. Die Jungle World-Redaktion kann sich indes so oft schütteln, wie sie will; solange sich keine emanzipatorische antikapitalistische Perspektive auftut, bestimmt die Konfrontation zwischen zerfallender Globalisierungsnormalität und ihren barbarischen Verfallsprodukten das Geschehen im hereinbrechenden Krisenzeitalter. Wer meint, im Zweifelsfall für den Westen Partei ergreifen zu müssen, wird kaum mehr in die luxuriöse Lage geraten, für etwas anderes Partei ergreifen zu können.

Die ungekürzte Fassung des Textes erscheint demnächst in der gemeinsam mit der Krisis herausgegebenen Sondernummer der Streifzüge. (Bestellungen an: Streifzuege@chello.at)