Machtkampf der Warlords in Afghanistan

Vorwärts in die Vergangenheit

Nach der Vertreibung der Taliban konkurrieren die Warlords der Nordallianz um Herrschaftsgebiete. Die USA und Großbritannien haben kaum noch Kontrolle über ihre Verbündeten.

Über den Anblick der Royal Marines war Ingenieur Arif, Vize-Geheimdienstchef der Nordallianz, nicht erfreut: »Es sind 85 von ihnen gekommen, ohne jede vorherige Koordination.« Nachdem am Freitag ein britischer Voraustrupp auf dem Flughafen Bagram nahe Kabul gelandet war, berieten sich die örtlichen Kommandanten der Nordallianz erst einmal. Am Tag darauf verkündete Arif, 15 Soldaten dürften bleiben. Sollte Großbritannien diese Entscheidung nicht akzeptieren, »müssen alle von ihnen gehen«.

Um die besondere Renitenz eines lokalen Kommandanten handelt es sich nicht. Am gleichen Tag erklärte Abdullah Abdullah, Außenminister der Nordallianz: »Wir erlauben keinem Land, Afghanistan als Basis zu benutzen.« Nur eine geringe Zahl ausländischer Soldaten zur Koordinierung der Hilfslieferungen sei akzeptabel.

Die britische Regierung aber denkt nicht an einen Rückzug. Im Gegenteil, die Truppenstärke soll auf 1000 oder sogar 2000 Soldaten erhöht werden. Ben Bradshaw, Mitarbeiter des britischen Außenministeriums, erwartet, dass »die Wortführer der Nordallianz, auf die es ankommt«, die Präsenz britischer Soldaten akzeptieren würden. Die Truppe habe eine wichtige Aufgabe bei der »Sicherung künftiger humanitärer und internationaler diplomatischer Missionen«.

Die Befürchtung, dass Truppen der Nordallianz sich an Hilfslieferungen bereichern könnten und sich von ihren westlichen Verbündeten nicht in die Regierungsbildung hineinreden lassen wollen, ist nicht unbegründet. Die Warlords zeigen wenig Neigung, die Macht in den von ihren Milizen besetzten Städten zu teilen.

Mit ihrem schnellen Vormarsch hat die Nordallianz gezeigt, dass sie sich nicht an die militärischen und politischen Vorgaben ihrer Unterstützer gebunden fühlt. Am 10. November hatte US-Präsident George W. Bush der Nordallianz nahe gelegt, bei ihrem Vormarsch Kabul zu umgehen. Zwei Tage später marschierten Truppen der von Burhanuddin Rabbani geführten Jamiat-i Islami in die Stadt ein. Rabbani, derzeit führender Warlord der Nordallianz, vertritt als Präsident des Islamischen Staates Afghanistan das Land in der Uno. Zahlreiche Staaten, unter ihnen mit Iran und Russland die vor Kriegsbeginn wichtigsten Unterstützer der Nordallianz, erkennen seine Regierung diplomatisch an.

Bei der Abwehr westlicher Einmischungsversuche kann sich die Nordallianz auf diese traditionellen Verbündeten stützen. Beide Staaten wollen eine Regierung unter US-Hegemonie und eine dauerhafte Präsenz von US-Truppen verhindern. Ein Ende des Bürgerkriegs ist nicht in ihrem Interesse. Jede afghanische Zentralregierung würde sich den US-Plänen für den Bau einer Pipeline zu den Energievorräten Mittelasiens öffnen, ein Projekt, das dazu beitragen würde, Iran und Russland aus diesem Geschäft zu verdrängen. So wollen beide Staaten der Stationierung ausländischer Truppen nur unter UN-Schirmherrschaft zustimmen. Damit hätte Russland als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates ein Vetorecht bei allen die afghanische Politik betreffenden Entscheidungen. Und nur ein Einsatz größerer ausländischer Truppenverbände könnte das Kräfteverhältnis ändern, die Beschränkung auf Blauhelm-Soldaten würde bedeuten, die Herrschaft der Warlords zu akzeptieren.

Mit dieser Rückendeckung kann Rabbani sich weiterhin als Staatsoberhaupt betrachten. Zwar erklärte er am Samstag bei seiner Rückkehr nach Kabul: »Wir begrüßen die Bildung einer Regierung mit breiter Basis, sobald das möglich ist«. Wann das sein wird, ließ er offen, und er bestand darauf, dass Verhandlungen in Kabul stattfinden müssten. Die meisten anderen Warlords lehnen es jedoch aus Sicherheitsgründen ab, in die von Rabbanis Truppen kontrollierte Stadt zu kommen. Und schon bevor sich Rabbanis Verhandlungsposition durch die Einnahme Kabuls verbessert hatte, zeigte die Nordallianz keine besondere Eile, Gespräche über die Bildung einer Koalitionsregierung zu führen.

Im Oktober hatten sich Vertreter des Ex-Königs Muhammad Zahir Schah und der Nordallianz auf die Bildung eines Obersten Rates für die Nationale Einheit Afghanistans geeinigt, beide Seiten sollten jeweils 60 Vertreter benennen. An den vereinbarten Folgetreffen aber nahm die Nordallianz nicht mehr teil. »Sie sind verantwortlich für die Verlangsamung des Prozesses. Unglücklicherweise haben sie immer neue Entschuldigungen vorgebracht«, erklärte Abdul Sattar Sirat, Berater des Ex-Königs. Auch der UN-Gesandte Lakhdar Brahimi klagte am Freitag, das größte Hindernis für schnelle Verhandlungen sei »die Antwort der afghanischen Parteien, und insbesondere der Allianz«.

Zahir Schah will nun aus seinem Exil in Rom nach Kabul zurückkehren, sobald seine Sicherheit dort gewährleistet ist. Der Schutz der Ex-Königs könnte die erste Aufgabe der Royal Marines in Kabul werden. Zahir Schah hat seit seinem Sturz 1973 in der afghanischen Politik keinen Einfluss mehr gehabt. Der Ex-König ohne Land und Truppen wäre auf ausländische Unterstützung angewiesen.

Zahir Schahs Berater Sirat drohte bereits, wenn die Nordallianz nicht zur Zusammenarbeit bereit sei, werde man eine afghanische Ratsversammlung ohne ihre Beteiligung bilden. Das käme der Bildung einer Regierung in Konkurrenz zur Nordallianz gleich. Doch die Bereitschaft der USA und Großbritanniens zu offensiven Militäraktionen gegen die Nordallianz ist fraglich.

Bislang gibt es keine Hinweise darauf, dass das Pipeline-Projekt um den Preis eines Guerillakriegs durchgesetzt werden soll. Es mangelt an zuverlässigen Verbündeten. Anders als in Konflikten, in denen es um direkte strategische Interessen geht, wollen die USA und Großbritannien die politische Verantwortung sobald wie möglich an die Uno abgeben. Die Präsenz eines relativ starken britischen Militärkontingents soll ihnen Einfluss auf die Regierungsbildung sichern. Die Entsendung einer Besatzungstruppe - im vergleichsweise winzigen Kosovo sind etwa 50 000 Nato-Soldaten stationiert - ist jedoch nicht beabsichtigt. So wird man Zahir Schah vermutlich bedrängen, eine Aufteilung des Landes entsprechend der militärischen Stärke der Warlords auszuhandeln.

Doch auch eine solche Strategie der Stabilisierung könnte auf Schwierigkeiten stoßen. Noch ist nicht sicher, ob die Taliban und al-Qaida als Kriegspartei wirklich ausgeschaltet sind. Die Truppenstärke der Nordallianz wurde bei Kriegsbeginn auf 15 000 bis 20 000 geschätzt - nicht viel für die Kontrolle eines Landes, das fast doppelt so groß ist wie Deutschland. Nach dem Zerfall der Taliban-Herrschaft haben sich eine Reihe neuer bewaffneter Fraktionen gebildet. So erklärten sich gleich zwei Warlords zum Gouverneur von Jalalabad im Osten Afghanistans. Kommandant Hazrat Ali, der sich im letzten Moment von den Taliban löste, hat mit seiner auf 5 000 Mann geschätzten Truppe große Teile der Stadt besetzt. Doch auch Haji Abdul Qadeer, der ehemalige Gouverneur der Stadt, hält nun den Zeitpunkt für gekommen, seinen Posten wieder einzunehmen.

In der Nordallianz, deren Mitglieder in der ersten Hälfte der neunziger Jahre blutige Fraktionskämpfe austrugen, zeigen sich erste Risse. Mehrere hundert Kämpfer der schiitischen Hizb-i Wahdat haben sich auf den Weg nach Kabul gemacht. »Wegen der vergangenen Erfahrungen sind die Menschen im Westen Kabuls besorgt über ihr Schicksal«, erklärte Musa Arifi, Repräsentant der Hizb-i Wahdat in Peshawar. Bevor die Taliban 1996 die Stadt eroberten, hatten Rabbanis Truppen immer wieder die im Westen der Stadt gelegenen Viertel der schiitischen Hazaras mit Raketen und Artillerie beschossen. Die Hazara-Milizen wollen ihr Lager allerdings vorerst außerhalb der Stadt aufschlagen.

So spricht gegenwärtig wenig dafür, dass die Freude über die Befreiung von der Taliban-Herrschaft lange währen wird. Die Nordallianz, so eine Erklärung der Revolutionären Vereinigung der Frauen von Afghanistan (Rawa) vom 13. November, »hat gelernt, wie man zeitweise gegenüber dem Westen als 'demokratisch' und sogar als Unterstützer von Frauenrechten posiert«. Sie würde jedoch nicht zögern, »das Feuer eines neuen brutalen und endlosen Bürgerkrieges zu schüren, um an der Macht zu bleiben«.