Neue Ausstellung von Mark Wallinger

Barfuß am Grab

Abgründig und hypnotisch: Mark Wallinger hat sich vom Werbepapst Saatchi emanzipert.

Vorbei ist es bis auf Weiteres mit dem Hype um die junge britische Kunst. Die von Werbepapst Saatchi erfundenen und im Rahmen der »Sensation«-Ausstellung zum Britpop-Exportschlager avancierten Young British Artists (YBA) sind medial verschlissen. Zu viel Pop, zu viel Skandal, zu wenig Substanz.

Bei der diesjährigen Turner-Preisverleihung gewann nicht der Saatchi-Künstler Richard Billingham, dessen intime Blow-up-Fotografien der eigenen subproletarischen Eltern noch in der »Sensation«-Show für einige Irritationen gut waren, sondern der verschmitzte Minimalist Martin Creed. Dessen preisgekrönte Rauminstallation in der Tate Britain - in einem großen leeren Raum gehen im Fünfsekundentakt die Lichter an und wieder aus - grenzte an Arbeitsverweigerung und sorgte für öffentliche Empörung. Die Show stahl ihm Madonna, die den Preis übergab. Ein neuer Nulldurchlauf in der britischen Kunstszene. Der Sturm im Wasserglas ist vorüber und schickt seine Kinder ins Ungewisse.

Vielleicht hat es aber auch etwas Befreiendes, nicht lebenslang unter dem allzu vordergründigen YBA-Label firmieren zu müssen und mit dem entsprechenden Vorverständnis rezipiert zu werden. Mark Wallinger ist so ein Fall. Seine großformatigen, hübsch-hässlichen Pferdeporträts, die in der »Sensation«-Show zu sehen waren, trugen den Titel »Race Class Sex« und erfüllten damit die wichtigsten Kriterien der Young British Art. Sie waren plakativ, catchy und universell ausdeutbar mit einem Zug zur platten Bedeutungshuberei.

Die neueren Arbeiten von Mark Wallinger, die zum Teil bereits im Britischen Biennale-Pavillion in Venedig zu sehen waren, haben sich auf angenehme Art aus dieser Gravitationsfalle befreit, in der alles bedeutsam, aber nichts wichtig ist, jedoch ohne auf Gravitätisches gänzlich zu verzichten. Die Ausstellung »No Man's Land« in der Whitechapel Gallery gehört abseits des Turner-Trubels derzeit zum Sehenswertesten und Eindrücklichsten, was London in Sachen Kunst zu bieten hat.

Das finstere Herz bildet im Hauptraum gleich hinter dem Eingang die Arbeit »Prometheus« von 1999. In den vier Ecken des abgedunkelten Saales ist auf Videomonitoren das Konterfei des Künstlers auf einem massiven elektrischen Stuhl zu sehen, delirierend und wirr psalmodierend. Die Zeilen entstammen - so entnimmt man dem Begleitheft - Ariels Song aus Shakespeares »Der Sturm«, es sind jene Sätze, die auch auf dem Grabstein des Dichters Percy Shelley stehen, der widerum eine große Inspiration für Wallinger darstellt. Ein endloses System von Binnenverweisen und eine nie enden wollende Exekution, die an die Endlosqualen aus dem gleichnamigen griechischen Mythos erinnert.

Makaber eingestimmt und ohne Schuhe betritt man durch eine schwere mechanische Flügeltür einen hell erleuchteten kleineren Raum, eine Art schauriges Allerheiligstes. Darin lärmt ein elektronisches Brummen oder Schnarren, das erst aussetzt, wenn man - wie in einem Konzentrationstest oder bescheuerten Adventure-Spiel - eine Metallschlinge über einen kreisrunden Bügel führt und dabei auf Abstand hält.

Wollte man die Lärmfolter dauerhaft abstellen, müsste man permanent neben dem Gerät stehen bleiben und den Kontakt unterbrechen, eine perfide Konstruktion eines kranken Hirns. An der gegenüberliegenden Wand befindet sich der Stuhl aus dem Video, allerdings im 90-Grad-Winkel montiert. Angeschnallt könnte man darauf Platz nehmen, sonst würde man mit dem Gesicht auf den grellweißen Boden fallen.

Die Perspektive entspricht somit der, die der Exekutierte einnehmen würde, wenn er, nachdem sein Kopf zur Seite gekippt ist, einen letzten wehmütigen Blick zurück werfen könnte. Und der Elektrolärm geht so dermaßen an die Nerven, dass man froh ist, den Raum zu verlassen und wieder festes Schuhwerk an den Füßen zu haben.

»Prometheus« ist mit Abstand das komplexeste, verstörendste und anspielungsreichste Werk der Show, gibt jedoch gleichzeitig den Ton für die anderen Arbeiten in den oberen Räumen vor. Sie sind durchaus leichter zu konsumieren, behalten aber eine Note des Abgründigen, Mythischen und Klerikalen bei.

Das Spiel mit der Gravitation und dem literarischen Zitat behält etwa auch »The Word in the Desert 1« bei. Die Fotografie zeigt den Künstler barfuß an der römischen Grabplatte des Dichters Shelley, allerdings steht sie auf dem Kopf. Der Künstler hängt unter der Platte kopfüber nach unten; die Toten beerdigen die Lebenden senkrecht in Luft, wäre eine Lesart. Die Mischung aus Sprache und Metaphysischem kulminiert in dem Satz »In the beginning was the word ...«, der sich als Schwundform durch die Ausstellung zieht, mal als Tonspur, einzeln buchstabiert, mal typografisch zerlegt als Sehtesttableau. Selbst das bekannte Pferdemotiv wird aus dem Rasse-Klasse-Sex-Diskurs befreit und in das neue Spannungsfeld Mystik vs. Aufklärung eingebracht: »Ghost« ist die lebensgroße Negativ-Fotografie eines springenden Einhorns. Durch die Inversion wirkt die Aufnahme des Fabeltiers wie ein Röntgenbild, unglaublich echt, nachgerade wissenschaftlich.

Umgekehrt kippen mittels subtiler Verfremdung Alltagszenen und -versatzstücke ins Irreale. »Time and Relative Dimensions in Space« ist ein Objekt in der Form eines ehedem im Londoner Stadtbild präsenten Polizeihäuschens. Die nahtlose Hochglanzverspiegelung sorgt dafür, dass ein Besucher es für eine Zeitmaschine hält. Die Videoinstallation »When Parallel Lines meet at Infinity« ist eine endlose, hypnotische Tunnelreise, gefilmt aus dem Cockpit einer Londoner U-Bahn. Allein der Titel löst die Erwartung aus, das physikalisch Unmögliche könne sich ereignen, wenn man nur lange genug zuschaut. »Threshold of a Kingdom«, eine weitere Videoinstallation, zeigt in Superzeitlupe Passagiere, die durch die Ankunftsschleuse eines Flughafens in die Halle treten. Unterlegt ist das mit mittelalterlichen Choralgesängen. Es braucht nicht den Hintergrund der aktuellen Ereignisse, um ein Gefühl von Erhabenheit zu empfinden.

Tatsächlich erscheinen die Reisenden beim sakral-verlangsamten Passieren der Milchglastür, über der »International Arrivals« steht, wie Lichtgestalten aus einer anderen Sphäre, die aus einer merkwürdigen Vorhölle oder einem Vorhimmel in unsere Welt eintreten. Das Wunder der Zivilisation, das als selbstverständlich anzunehmen wir uns angewöhnt haben, erhält hier für einen Augenblick seinen wundersamen, will sagen: unwahrscheinlichen Charakter zurück. Allein der gelangweilte Flughafenbeamte hinter seinem Schalter erinnert daran, dass draußen eine gänzlich unbeseelte, unsensible und unbewohnbare Großstadt lauert.

No Man's Land. Bis zum 13. Januar in der Whitechapel Art Gallery, London