Das Unbewusste in der Geschichte

Am Handy der Aufklärung

Ein einseitig belauschtes Telefonat übers Unbewusste in der Geschichte.

Aus der Winterkälte geht es in den Schacht hinunter. Schon auf der Rolltreppe weht uns der warme, nach Metall schmeckende staubige Hauch des Personennahverkehrs an. Man hört Stahlräder auf den Schienen knirschen. Verrückte mit Walkmanstöpseln in den Ohren singen laute Lieder, andere Verrückte betteln, drohen oder tanzen seltsame moderne Vor-und-Zurück-Choreographien mit ihren schlagstockbewehrten Partnern von der privaten Sicherheitsfirma. Ein ganz kaputter Mann sitzt zusammengekrümmt auf der Plastikbank, er ist obdachlos, besoffen, halb erfroren und schnapsrot im Gesicht, hat die Hose in den Knien hängen und die Hand auf der Unterhose liegen, brabbelt sabbernd vom Krieg oder Sieg.

Junge Mütter steuern ihre Kinderwagen so weiträumig es geht um ihn herum, Geschäftsleute gehen rasch vorbei, weichen aber nicht aus, man soll ja sehen, dass sie keine Angst vor den Armen haben (wenn sie schon sonst so viel Angst haben, im Moment). Vergesst die Eingeweihten-Rundbriefe der großen Analysten, wickelt eure angefressenen Nordsee-Fischbrötchen in die Wirtschafts- und Finanzmarktteile der großen überregionalen Tageszeitungen, klickt euch nicht die zarten Fingerchen kaputt mit dem Börsenbericht auf Spiegel online: Der wahre Ort der empirischen Konjunkturabschätzung ist der Untergrund, der U-Bahnschacht in der Großstadt, hier bei uns in Mitteleuropa - fast hätte das »Mittelutopia« heißen dürfen, jetzt, wo der Markt endlich wirklich frei und das Ziel der bürgerlichen Geschichte erreicht ist.

Zwischen den Zuständen in, sagen wir mal, der alten BRD einerseits und, sagen wir mal, Polen andererseits wird bald nicht nur EU-osterweiterungshalber eine Art neues Gleichgewicht bei der Vernutzung von lebendiger Arbeit durchs Kapital erreicht werden, das kann man dann, sagen wir mal, in etwa Brasilien nennen: wenige Milliardäre, ein paar Millionäre, in der Mitte eine weiche Cremeschicht blasierter Leibeigener, die bei der Pisa-Studie noch so leidlich abschneiden würden und daher ein bisschen rumkoordinieren, kreativeln und contentproviden dürfen, unten dann der ganze Dreck, lebendige Arbeit eben, die sich nichts mehr einzubilden braucht, austauschbarer war sie nie, und natürlich: die lebenden Toten. Die trifft man in den U-Bahnschächten, wie die jungen Mütter. Wenn die Hoffnung sinkt, werden mehr Wahnsinnige und kleine Kinder produziert, weil das Bedürfnis nach Menschwerdung der beiden großen Vektoren im sozialen Kräfteparallelogramm wächst: erstens Irrsinn und zweitens Es-geht-weiter.

Hinterm Süßigkeitenautomaten dringt eine Stimme hervor: »Ja, hör' mir doch auf. Wie? ... ja. Nee, da sag' ich dir nur, am Arsch ist's finster, aber nicht windstill. Woran wird es wohl liegen, dass die Kleinen nichts mehr lernen wollen? Immer diese Symptomdokterei, kleine Klassen, große Klassen, dicke Lehrer, dünne Lehrer, in Wahrheit wissen alle, dass es einfach nichts mehr bringt, das Lesen, Schreiben, Rechnen. So geht eben Geschichte, hat mein Hegelchen ja schon in der Vorrede zur Erstausgabe der Logik erzählt: 'Es ist aber ein für allemal vergebens, wenn die substanzielle Form des Geistes sich umgestaltet hat, die Formen früherer Bildung erhalten zu wollen.'«

Wer spricht? Was mault? Wer nennt Hegel »mein Hegelchen«? Noch ein Verrückter? Es geht sturzbachartig weiter: »Jawoll Sir, Selbstverbesserung als Lebensentwurf hat ausgedient - wenn ein, zwei Monopole die Geschicke der Leute lenken, fällt man nur noch durch Wohlverhalten auf, nicht mehr durch rationale Planung der Arbeit ... hmpf? Und selbst das Wohlverhalten, ja, hast recht... hö?« Die Stimme ist nicht körperlos, es waren nicht die Drops und Chips und Schokoriegel, die das gebrabbelt haben. Ein Mann tritt hinterm Automaten hervor, langer Militärmantel, wirres Haar, ausgezehrtes altersloses Gesicht. Ist der Typ 30, 50, 70 Jahre alt? Er sieht aus wie einer dieser Hollywood-Askesedarsteller, irgendwo zwischen Eastwood, Christopher Walken und der reinen Hohlwangigkeit des weißen Enttäuschten als solcher; hat ein Handy in der Rechten, ganz fest ans Ohr gepresst, brüllt rein, wobei er sich den Ringfinger der Linken ins linke Ohr steckt (also wohl schlechter Empfang): »Die ganze bürgerliche Aufklärungsidee ist tot. Schau dir nur an, wie sie den God-bless-America-God gegen dem bin Laden seinen Holzwurm-Allah aufgefahren haben, was Besseres fiel ihnen nicht ein. Das ist nicht mehr das bürgerliche Rückgrat aus der Phase, als ein Joseph Priestley schreiben konnte, man müsse die freie Untersuchung sogar dann zulassen, wenn sie zum Tod der christlichen Weltanschauung führe, die uns Westmenschen doch erst mit der Liebe zur Wahrheit erfüllt hat, aus der dann die Idee der freien Untersuchung ... hö?«

Mit wem telefoniert der da bloß? Mit dem Institut für Sozialforschung? Er hustet, dann bellt er: »Ja eben, nee echt, es war ja gerade auch sozial gemeint, als Spinoza seine Ethik auf das Fundament stellen wollte, alles müsse intelligibel sein, jede andere Auffassung wäre, wie hat er gesagt, gefährlich? Man wollte eine durchschaubare Gesellschaft, nicht nur eine erkennbare Welt ... was? Ja, eben ... hmöh? Juhnke? Exakt, der Bürger funktioniert als Ganzer jetzt genau wie Juhnke. Teddybär festhalten, ins Heim stecken lassen, Gott schütze mein Vermögen und die Banken, die's verwalten, geht mich alles nix mehr an. Es hat sich ausaufgeklärt. Wissen ohne Entscheidendürfen infantilisiert eben genauso wie Beschütztwerden ohne Entscheidendürfen. Im Westen wächst eine ... eine Bevölkerung heran, die genauso dumpf unzufrieden ist wie die Ostblockmassen vor dem Fall der Mauer, aber diesmal ist kein Profiteur von außen da, der dem Prozess als Magnet dient und ... ja, okay, die Dämonen aus der Hölle unter der Erde, aber ob's die wirklich ... ja. Ja, hast Recht.«

Sein rechtes Auge hat einen nervösen Tick, es zwinkert ständig unkontrolliert. Er geht am Bahnsteig auf und ab, doziert und spuckt, steigt jetzt in einen eben eingefahrenen Zug ein, der zum Hauptbahnhof fährt. Wir folgen ihm mit Abstand. Abstand halten überhaupt alle von ihm, mindestens ein halber Meter Bannzone ist allseitig um ihn; selbst die Sicherheitstypen schauen irgendwo anders hin, nur nicht in sein Gesicht. Der Mann im Armeemantel keucht, schnieft. Sein Gerät scheint ziemlich leistungsstark, auch im schwarzen Tunnel monologisiert er erhitzt weiter - vielleicht ist das Handy überhaupt ausgeschaltet und er redet mit dem leeren Plastikgehäuse.

Wir schauen uns an, grinsen unsicher. Wir hören nicht alles, was er sagt, der Fahrtlärm ist groß. »Wissenschaftsbetrieb das gemerkt ... eine Art ... wie ein Requiem oder so eine Art Zupflastern mit großen Büchern ... Grabstein der Bourgeoisie als bewusste Klasse ... seit einigen Jahren schon, erst '97 der Sammelband von Alexander Broadie über die schottische Aufklärung, dann 2000 der Band über die Entstehung der modernen Welt in der britischen Aufklärung von diesem Medizinhistoriker Porter, und jetzt, 2001, das Ding von dem Jonathan Israel, der in Spinoza die zentrale Figur ... Veröffentlichungspraxis ... einen unver ... ja ... naiven Zugang zur Informationsverbreitung ... glaubten an die Druckerpresse ... nein, niemand glaubt ja heute in demselben Ausmaß ans Internet wie diese Leute, Hume, Spinoza, Voltaire ans gedruckte Wort ... ein als Medienbewusstsein verkleidetes Klassenbewusstsein: Sie konnten wirklich Humanisten sein, kein Problem, ihr Mensch war ein Leser ... aber diese lachhafte 'Hackerethik' von diesem Computer-Anti-Max-Weber Pekka Himanen mit seinen Castellsen und Torvaldsen da... alles Substitute ... räöch! Öche öche! Hrrarrgh! ... völlig abgeklärte Vorstellung von Kommunikation, weg von den Menschen und dem subjektiven Faktor der Geschichte ... gibt es ... hö ... ja beide auch nimmer, das erzeugt dann auf Kommunikationstheoretikerseite nur noch lauter Luhmannisten statt Humanisten ... hö ... naja, so gut auch wieder nicht, der Scherz oder?«

Seine Miene verfinstert sich, wir fahren an einer Station ein, er hört und nickt. Es steigen Leute rechts und links von ihm aus; wahrscheinlich müssen einige von denen hier noch gar nicht raus, die steigen weiter hinten wohl wieder ein. Der Typ macht allen Angst.

Die Bahn steht, er redet, jetzt vernimmt man deutlich jedes Wort. »Oder nehmen wir den Krieg. Immer wichtig gewesen in Aufschwungsperioden des Geistes, nicht wahr. Die Musketenmarschierer, die Belagerungsingenieure des 18. Jahrhunderts, das waren alles auch Schrittmacher für das Zeitalter der Vernunft, der Ausgang der Schlacht war noch einer, Genie, Geschick und sowas, darauf konnte man sich einen runterholen. Und heute? Strategie Fehlanzeige, kein Admiral Nelson wird von diesen komischen Strafexpeditionen gestählt und gebildet werden, das ist alles so traurig und dumpf, weil schon die darunter liegende Wirtschaft und politische Struktur so blind aktionistisch ist ... selbst der Economist schreibt im Dezember 2001 ... wo hab' ich's gleich ...« Er zieht den Finger aus dem linken Ohr, greift mit der Linken tief in die Manteltasche seines weiten Tarncapes, kruschtelt drin rum, holt was raus, glättet es auf dem Knie - ein Blatt Papier, Kopie oder Ausdruck.

Hält es sich vor's Gesicht, liest: »Wenn der 11. September wirklich die Welt verändert hätte, wäre eine Sache, die er sicher hätte verändern müssen, die Einstellung des Westens und insbesondere der Vereinigten Staaten zur Energiewirtschaft. Amerikas Abhängigkeit von Ölimporten aus dem mittleren Osten hat das Land dazu gebracht, die Stabilität der Region als lebenswichtiges Interesse anzusehen. Indem es dieses Interesse im Lauf der Jahre verteidigt hat, sind seine militärischen Engagements immer teurer und komplizierter geworden ... man kann sagen, sie hätten sich ihre unvermeidliche Niederlage auf diesem Feld schon jetzt eingebrockt.«

Der Telefonierer holt Atem, seufzt, horcht. Dann sagt er: »War ja unvermeidlich, dass das so ... die Aufklärung hat eben vor der, äh, Wirtschaftsdemokratie halt gemacht, die Gesellschaft ist naturzufällig geblieben ... wenn der Krieg um Ideen geführt wird, hat die richtige Idee immerhin eine Chance, dabei auch ein bisschen ... ja, deshalb war es sinnvoll und richtig, wenn Lenin für den zweiten Kominternkongress in den Entwürfen zur kolonialen Frage meint, man müsse nicht nur den Imperialismus bekämpfen, sondern auch den Panislamismus, Khane, Gutsbesitzer, Mullahs in den feudalen, patriarchalisch-bäuerlichen Gegenden da unten, weil er das ja an einen Plan knüpfte, wie diese Länder die politische Emanzipation ihrer Bewohner erfahren sollten, und das ist halt ein Instrument, das Bush logischerweise nicht zur Hand hat.«

Ein Mädchen, vielleicht acht Jahre alt, die behandschuhte Hand in der Hand der Mutter, sitzt drei Bänke weit weg von dem Wahnsinnigen, eingemummelt in ein Thermojäckchen bis rauf zum Kinn, Wollmütze bis über die Augenbrauen nach unten gezogen, und starrt den Telefonierer unverwandt an, während die Mutter den Kopf schief legt und die Draufsichtskarte der U-Bahn-Verbindungen studiert.

Der Telefonierer, dessen Blick sowieso tanzt und flattert, sieht einmal auch zu dem Mädchen hin; er zwinkert ihm zu, vielleicht zwinkert er auch nur so, jedenfalls schaut er dann wieder weg, redet aber unablässig weiter: »Das kann der Amerikaner nicht wollen, eine Aufklärung da unten mit allem Tschingderassabumm und neue Epoche der Weltgeschichte und Pipapo, das schafft nur anspruchsvolle Gegner statt der wenigstens leicht anzuschwärzenden, nach innen und außen irrationalen Schurkenstaaten ... der Charlie Stross hat's ganz richtig zusammengefasst, wir brauchen uns nicht wundern, dass das 'rückständige' Gegenden sind, die Aufklärung ist halt nicht bloß irgend so 'ne gute Idee, sondern braucht einen sozialen Träger, und wer hätte das sein sollen, wenn der geschichtliche Verlauf lautet: Die Ottomanen laufen Amok, werden verjagt, die Briten kommen, die Briten hauen ab, nachdem sie ein paar Quislingsmonarchen installiert haben, die Briten und später die USA bauen Israel als Brückenpfeiler auf, wollen das Land aber an die Leine legen, nationalistische Ideologien der Sorte Baath-Partei kommen auf, die Amis laufen Amok im Interesse des Antikommunismus, die Wasserfrage wird immer akuter, während der Westen sich bloß für's Öl interessiert, dadurch wird den Leuten da unten immer klarer, wie völlig willkürlich die militärischen und politischen Initiativen der äh zivilisierten Welt ... ähm ...«

Kontrolleure geben sich zu erkennen, wollen unsere Karten sehen. Sie arbeiten sich langsam zu dem Globalanalytiker vor, der unanfechtbar sein Handy weiterbelehrt: »Ja, und vor allem ... nein, eben nicht. Es gibt ja gar keine Alternative mehr, die man noch diskutieren könnte, denn zum Diskutieren braucht man erst mal selber einen Knüppel, wenn ... Was?«

Die Kontrolleure gehen an dem Mann vorbei, würdigen ihn keines Blickes. Sind sie geschult für so was? Gibt's einen Sondertarif für allwissende Zeitkritiker? Es geht so weiter: »Irgendwo bei Carl Schmitt, ich weiß nicht mehr, ob im Begriff des Politischen oder der ausgelagerten Theorie des Partisanen, kriegt er plötzlich den Moralischen, der alte rechte Weltenlenker, von wegen das Grauen des Umsturzes sei ja, dass man den Leuten einrede, es lohne, für eine Idee zu kämpfen, dabei sollte man von niemandem verlangen, für was anderes zu sterben als die nackte Selbstverteidigung ... und eben das erzählen heute ja sogar Leute, die sich für links halten, dabei ist es genau diese ahistorische Vergottung des Atavismus, die aus den Leuten bloße Raubtiere machen will, da war der Hegel ein anderer Kerl, oder der Marx, die noch wollten, dass eine Idee die Massen ergreift, oder die guten alten westdeutschen Terroristen, die meinten, der Kampf für das Richtige mache überhaupt erst den Menschen ... öh, was? Oh, wir sind gleich am Bahnhof, ich muss dann raus und fahr' weiter nach Tanelorn ... ruf' dich aus'm Zug mal ... was? Ja, okay.«

Wir, die Zuhörer, sind erleichtert und geschafft. Er nimmt das Funktelefon endlich vom Ohr. Klappt es zusammen. Schaut das kleine Mädchen an, das die ganze Zeit kein Auge von ihm gelassen hat. Lächelt. Das Mädchen sagt: »Warum musst du keine Karte zeigen?« Die Mutter zischt dem Kind was zu, ohne es anzusehen. Der unheimliche Fremde aber lächelt noch breiter und sagt: »Weil ich der Weltgeist bin. Die Vernunft in der Geschichte. Leute, die das Bestehende am Laufen halten, können mich nicht sehen. Früher hab' ich in den Sachen gesteckt, Angelika, jetzt bin ich auf der Flucht. Hat seine Vorteile.«

Der Wagen hält, die Türen gehen automatisch auf. Der Mann steigt rückwärts, mit wehenden Militärmantelspitzen, aus der Bahn. Wir trauen uns nicht, ihm zu folgen. Die Bahn fährt wieder an, und das kleine Mädchen sagt zur Mutter: »Mami, woher weiß der Onkel, wie ich heiße?«