Valeska Grisebachs »Mein Stern«

Der zweite Blick

Valeska Grisebachs Teenagerstudie »Mein Stern« beobachtet die Liebe.

Mein Stern« war einer der schönsten Filme der letzten Berlinale. Es geht darin um den Versuch Heranwachsender, die abertausendfach in Popsongs, Fernseh- und Kinobildern geprägten Zeichen für Liebe in eigenes Leben umzuwandeln.

Der Film ist Kino, er liebt Bewegung. In der Eröffnungssequenz findet eine Art Flaschendrehen statt, zwischen Jugendlichen in einem Kreis, immer ein Junge neben einem Mädchen. Eine Spielkarte geht zwischen ihnen um, sie wird mit den Lippen angesaugt und an den nächsten Mund weitergegeben, ein Reigen von Beinaheküssen. Dort, wo die Karte fällt, muss »echt« geküsst werden. Ein Mädchen trifft es zweimal hintereinander. Es wird geunkt, dass sie da etwas absichtlich verkehrt mache. Sie wird eine der beiden Hauptfiguren dieser Geschichte werden.

Die Kamera verdoppelt mit einer nachvollziehenden Bewegung den Kreis, wenn sie, in dessen Zentrum stehend, dem Lauf des Spielkarten-Satelliten auf der Bahn dieses Teenager-Orbits folgt.

Dies ist die turbulenteste Einstellung des ganzen Films. Später überwiegt ein milieubewusster Porträtstil, mit fixen Standpunkten und engeren Ausschnitten. Trotzdem ist in jedem weiteren Bild etwas über den Zusammenhang von äußerer und innerer Bewegung anschaulich gemacht. Valeska Grisebachs Film geht vom Sichtbaren aus und sammelt eine Vielzahl von Zeichen für Liebe, die er in Form von Gesten immer wieder aneinander reiht - Umarmungen, Küsse, Blicke. Hier wird ein veritabler Katalog an Semantiken für den amourösen Ausdruck aufgeblättert, ohne dass irgendein Text, eine Dialogzeile, eine Interpretation vorgegeben würde.

Einerseits erscheinen diese Gesten wie abgenutzt, als sozial gemacht und bis zum Überdruss einstudiert. Andererseits können sie erst durch das holprige Ausprobieren wieder als neu beobachtet werden. Zwischen kollektiver Erwartbarkeit bestimmter Erfahrungen und ihrer je individuellen Einzigartigkeit klafft offensichtlich eine Lücke. Die lässt erst einmal erschrecken. Welchen Weg soll man einschlagen zwischen den gesellschaftlichen Gegebenheiten und den eigenen Subjekt-Träumen?

Die Hauptfiguren: Nicole (Nicole Gräser) und Schöps (Christopher Schöps), beide um die 16. Sie macht ein Praktikum als Verkäuferin in einer Bäckerei. Er bewirbt sich um eine Lehrstelle als Gas-Wasser-Installateur. Sie lernen sich kennen, erobern sich gegenseitig, dann erste Zweifel, Eifersucht auf die Vergangenheit des anderen. Schöps trifft sich mit seiner Ex und trennt sich von Nicole. Dann kommen die beiden wieder zusammen, und Nicole hat eine Affäre mit einem anderen. Wieder verlässt Schöps Nicole. Darauf platzt sie in die Einweihungsfeier von Schöps' erster eigenen Wohnung, wird von ihm hinausgeworfen, doch sie zeigt Stehvermögen. Mit den nächsten Gästen schlüpft sie durch die Tür. Störrisch und unbeirrbar tut sie so, als sei nichts gewesen. Am Schluss stehen sie sich auf der kleinen Party gegenüber, wortlos einander anstarrend. Dann ist der Film plötzlich aus.

Was lag da im Blick der beiden? Ratlosigkeit? Oder ahnendes Entsetzen? Wie geht Sich-nahe-Sein, nachdem warnend beschworene und doch seltsam unausweichliche Verletzungen schon einmal zugefügt wurden? Oder: Wird das jetzt immer so weiter gehen? Grisebach wendet Verfahren, wie sie aus dem zeitgenössischen französischen Kino bekannt sind, auf die deutsche Gegenwart an: Ein Tageslicht-Realismus gibt den Bildern pastellene Farben und macht sie, auf etwas tückische Weise, sanft. Die Erzählung hüpft in unauffälligen Ellipsen vorwärts, entlang an eher kleinen Gesten und gewöhnlichen Handlungen.

Die Szenen sind kaum geschnitten, nüchterne Kadragen beschränken sich auf das Wesentliche. Trotz dieser Konzentration öffnet sich ein großer Deutungsspielraum, es bleibt Zeit zu sehen, ein zweiter Blick wird einem zugestanden. Hier bewährt sich auch die Methode des Minimalismus als Schule des Sehens und als Form induktiven Denkens: vom Kleinen zum Großen kommen.

Alle Darsteller sind Laien. Warum diese Entscheidung? Worin besteht der Nutzen für das Werk? »Mein Stern« zeigt damit noch eine ganz andere Bewegung auf, im Film ist der Weg von der Idee zur Umsetzung noch sichtbar. Man merkt sofort, dass ein solches Projekt nicht ohne die intensive Befragung seiner Darsteller als Protagonisten eines wirklichen Lebens auskommen kann. Man spürt den ganzen Film hindurch die Vereinbarungen, die Regie und Darsteller haben treffen müssen, um zu diesem Ergebnis gelangen zu können. Feste Vorgaben der Erzählung sind fein ausbalanciert mit einem offenkundig gemeinsam festgelegten Spielraum für improvisatorische Darstellungsformen. Das nimmt einen mit solcher Überzeugungskraft ein, dass man schon gar nicht mehr richtig staunen kann, sondern alles nur noch einfach logisch finden will.

Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, stellt »Mein Stern« aus, was andere Filme so gerne verbergen: die Entstehungsbedingungen, die Gemachtheit. In diesem Sinne ist der Film eine dokumentarische Arbeit oder eigentlich noch mehr eine besonders konsequente Arbeit an der Auflösung der Trennung zwischen Dokumentarischem und Fiktion. In jedem Fall ist es Grisebach und ihren Darstellern gelungen, einen Rahmen abzustecken, in dem sie sich ausagieren konnten. Niemand könnte diese Rollen besser spielen. »Mein Stern« hat bis zum allerletzten Komparsen seine Idealbesetzung.

Der Hintergrund des zeitgenössischen Ost-Berlin, vor dem der alte Liebesdiskurs aufgeführt wird, ist in gekonnter Dezenz eingefangen in den Orten des Berliner Bezirks Mitte, im dauervernuschelten Ost-Berliner Slang mit eindeutiger DDR-Vergangenheit, in den sozialen Zuständen, die der Geschichte ihren Motor verleihen. Es sind zersplitterte Familien- und liberalisierte Arbeitsverhältnisse, die Ausflüge in die Sexualität der jugendlichen Helden überhaupt erst ermöglichen; in einer flüchtigen Arbeitswelt, in die sich einzufügen vorausgesetzt wird, mit der sich aber keine große Sinnherstellung mehr verbindet.

»Mein Stern« handelt auch von »unsichtbaren« Menschen. Diese Spezies ist so selten zu sehen, wird noch seltener einer Würdigung für Wert befunden und kommt im offiziellen Bild, das eine neue Hauptstadt von ihrem Zentrum zu entwerfen sucht, überhaupt nicht mehr vor, sodass man sich über ihre schiere Existenz wundert. Vom Aussterben bedroht, man könnte »Mein Stern« auch wie einen ethnografischen Film sehen. Sein Thema wären dann die Kinder von in Vergessenheit geratenden »Ureinwohnern«, die bei ihrem Anpassungsprozess an eine Modernität betrachtet werden, deren Norm durch neue Hegemonien festgelegt wird.

Es begegnen einem viele Zeichen unserer Zeit in »Mein Stern«, eindeutig entzifferbare Dresscodes und weitere Chiffren für Aktualität wie die konsumierte Musik oder Inneneinrichtungen, die sagen: Das ist Heute, das ist Post-Wiedervereinigung. Ein bisschen Rave, ein bisschen Hiphop, ein bisschen Hooligan.

So bekommt das offizielle Mitte-Bild schließlich doch noch seinen Auftritt. Man sieht: Etwas ist im Begriff zu verschwinden oder wenigstens dabei, sich fundamental zu wandeln. Aber wie soll man sich diese Veränderungen erklären, ohne Berührung mit der im Film ausgeblendeten dominierenden Welt? In die andere Richtung gefragt: Was nimmt die Welt der Bestimmer von diesen Leuten an, denen es ja auch die kommenden Trends schmackhaft zu machen gilt?

»Mein Stern«; D 2000. R.: Valeska Grisebach. Start: 3. Januar