»Kandahar« von Mohsen Makhmalbaf

Lebendig begraben

Mohsen Makhmalbafs Film »Kandahar« klagt das Geschlechterregime der Taliban an.

Die Hoffnung eines Verdurstenden ist Wasser, bei einem Hungernden ist es Brot, und eine Frau unter einer Burka hofft auf Sichtbarkeit«, heißt es in dem Film »Kandahar«. Das Ringen um ein Sichtbarwerden im gewalttätigen Elend und das Finden von Bildern, die eine nicht vorstellbare Hoffnungslosigkeit einfangen, darum geht es der neuen Produktion des neben Abbas Kiarostami wohl populärsten iranischen Regisseurs Mohsen Makhmalbaf. Es ist nach »The Cyclist« (1988) sein zweiter Film über Afghanistan.

Der Film beginnt mit dem geräuschvollen Hochschlagen einer Burka. Durch das Augengitter, das sich die junge Frau nun zum Schutz gegen die Sonne über die Stirn hält, fällt gepunktetes Licht auf ihr Gesicht und zeichnet eine Maske, wie man sie von Kostumbällen kennt. Der Schleier, der Vorhang, ist gefallen, aber die Innenansicht, die Einsicht hat nicht stattgefunden. Es folgt der Blick der Kamera auf eine Gruppierung, die sich für ein Hochzeitsfoto auf staubiger Straße aufstellt - die Frauen sind komplett verschleiert, Gruppenfoto ohne Dame.

Die Rahmenhandlung, in die diese Szenen von der Reise nach Kandahar eingepasst werden, ist schlicht, die Dramaturgie eher schütter. Eine im kanadischen Exil lebende Journalistin erhält einen Brief von ihrer Schwester aus Afghanistan, in dem diese ihren Selbstmord zur bevorstehenden Sonnenfinsternis ankündigt. Die Journalistin macht sich daraufhin auf den Weg ins Zentrum der Taliban, um ihre Schwester zum Weiterleben zu überreden. Auf dem Weg dorthin erzählt sie ihrem Walkman, was sie sieht und denkt. Nein, es handelt sich nicht um einen Frauenfilm. Und nicht um »eine Nummernrevue des Elends« (taz). »Kandahar« ist ein Film über Blickregime im Krieg.

»Afghanistan ist ein Land ohne Bilder.« Immer wieder weist Makhmalbaf auf das Skandalon des von den Taliban verhängten Bilderverbotes hin. Mit der Machtübernahme 1996 verboten sie das Fernsehen, den Import und Export von (ausländischen) Fotos und Printmedien und schlossen nahezu alle Kinos. Auch das Ausland zeigte sich nicht sonderlich interessiert an Afghanistan, man brauchte kein Bild von diesem verwüsteten Land. Bis die Aufnahmen von den gesprengten Buddha-Statuen um die Welt gingen.

Die sich einstellende internationale Entrüstung empörte Makhmalbaf tief: »Ich kam zum Entschluss, dass die Buddha-Statuen nicht von irgendjemandem zerstört wurden, sondern vor Scham zusammenbrachen. Vor Scham angesichts der internationalen Ignoranz gegenüber der Situation in Afghanistan.« Jene Gleichgültigkeit hat sich seit dem Spätsommer aus bekannten Gründen in ein gewisses Interesse verwandelt; selbst der amerikanische Präsident hat sich nach Angaben des Figaro unlängst eine Kopie von »Kandahar« schicken lassen.

Der Film füttert dieses neue Interesse an Bildern mit Darstellungen, die, jenseits von Kriegs- und Elendsklischees, eine im Alltag normalisierte Gewalt und Verzweiflung bezeugen, ohne sich diese Brutalität anzueignen. So ist »Kandahar« eine irritierende Mischung aus ästhetisierten bis surrealen Szenen, verbunden mit hölzernen Dialogen zwischen Laiendarstellern. Mal bewegen sich Burkas als farblich sanft abgestufte, verwehte Tupfen im Wüstensand, mal wiegen schmale Jungen ihre Körper beim Auswendiglernen der heiligen Schrift und der Waffenbeschreibungen in Koranschulen. Der erzielte Authentizitätseffekt ist erstaunlich.

Makhmalbaf zeigt, wie der kulturell-religiös sanktionierte Blick des afghanischen Mannes auf die Frau diese in seinen Besitz verwandelt. Die Frau wird zur verdinglichten Ehre des Mannes. Mit seinen immer wiederkehrenden Aufnahmen der komplett verhüllten, mehr Säcken als sonstwas ähnelnden Frauen attackiert der iranische Regisseur das umfassende Verbot einer weiblichen Sicht auf die Welt.

»Wenn ich nur zehn Prozent all dessen über den Iran gesagt hätte, wäre ich gestoppt worden«, merkt Makhmalbaf an. Leise, unspektakuläre Szenen zum Beispiel beim Arztbesuch handeln davon, dass die Burka nur ein Schattendasein, kein Leben zulässt und dass doch ein Leben begraben ist unter dem Bild des Sacks. Der Arzt darf nur durch ein Loch im Laken, welches zwischen ihm und der verhüllten Patientin gespannt wird, einen Blick auf ihr Auge oder in ihren Mund werfen. Die Kommunikation erfolgt über den männlichen Begleiter.

Makhmalbaf inszeniert zugleich den Blick auf die Frau, der immer wieder an der Burka abprallt, und ebenfalls, wenn auch nicht ganz so hart, an der obligaten Rahmung des männlichen Gesichts durch Turban und Bart. Frau im Baumwollgefängnis, Mann mit Bart, das sind die Insignien einer Gesellschaft, die sich auf der Geschlechterdifferenz als beständig zu wiederholendes Bildritual gründet. Es sind nicht Reichtum oder Schönheit, sondern es ist immer die Differenz zur Frau, die den Mann zum Mann macht und die Frau zum Ding.

Auch diese erpresste Reproduktion des starren Bildes von Frau und Mann in einer ansonsten bildarmen und reizlosen Gesellschaft reißt eine Kluft auf zur westlichen Welt. Makhmalbafs Heldin, die Exil-Afghanin Nafas - deutsch: Atmung -, verbindet die Innensicht mit der Außensicht und kann so als fremd-vertraute Mittlerin die Brücke zum westlichen Zuschauer schlagen. Durch ihre Wahrnehmung werden Alltagsszenen von einem Land vermittelt, in dem bereits eine Million Menschen verhungerten und in dem das einzig Moderne, wie Makhmalbaf meint, die Waffen sind, und wo täglich Menschen von Landminen verstümmelt werden.

Afghanistan ist neben Kambodscha das am meisten verminte Land der Erde. Die Minenopfer bilden neben den in Burkas gesperrten Frauen das zweite bittere Bildzentrum des Films. Die Hoffnung der Verstümmelten sind Prothesen, die ab und an mit weißen Fallschirmen über einem der Rot-Kreuz-Camps in der gelben Wüste abgeworfen werden. Wer Erster ist, darf sie vielleicht behalten. Also wird gerannt, auf einem Bein, mit einer Krücke. Nur hier habe er gemogelt, sagt Makhmalbaf, normalerweise würden die Prothesen verpackt abgeworfen. Aber unverhüllt machten sie vor dem blauen Himmel mehr Eindruck, gäben ein besseres Bild.

»Kandahar«, Iran 2001. R: Mohsen Makhmalbaf, D: Niloufar Pazira, Hassan Tantaï, Sadou Teymouri. Start: 3. Januar