Heimat, die sie meinen

In Deutschland sind die Vertriebenen trotz der deutsch-tschechischen Erklärung und trotz Rot-Grün noch immer ein außenpolitischer Faktor.

Deutsche Volkstums- und Vertriebenenpolitik ist wieder en vogue. Im Zuge der EU-Ost-Erweiterung und mit der Strategie, Restitutionsfragen zu internationalisieren, setzt eine große Koalition aus Vertriebenenfunktionären der deutschen, der österreichischen und der bayerischen Regierung und dem Europaparlament ein Thema auf die politische Agenda, das nach der deutsch-tschechischen Erklärung von 1997 abgehakt schien: die Benes-Dekrete.

Im Januar 1997 vereinbarten die damaligen Regierungschefs Helmut Kohl und Vaclav Klaus, die Beziehungen zwischen den beiden Staaten nicht mit historischen Fragen zu belasten. Jetzt qualifiziert der Bayernkurier dieses Dokument der CDU/ CSU-Regierung ab: »Vor fünf Jahren wurde in Prag die 'deutsch-tschechische Erklärung' unterzeichnet. Nach tschechischer Lesart sollte das Dokument die sudetendeutsche Frage endgültig erledigen. Nun hat ausgerechnet der tschechische Ministerpräsident klargestellt, dass das Problem weiterhin offen ist.«

Die Frage, welches »offene Problem« Zeman denn genau »klargestellt« habe und wie es zu lösen sei, ließ das CSU-Organ unbeantwortet. Aber der Kommentar zeigt, wie die jüngsten Äußerungen des tschechischen Ministerpräsidenten über die Sudetendeutschen gegen ihn und die historischen Fakten gewendet und dazu benutzt werden, deutsche Ansprüche an Tschechien zu aktualisieren.

Die Deutschen sind nicht allein. In der letzten Woche sagte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban in Brüssel, Tschechien müsse nach dem EU-Beitritt die Benes-Dekrete formal für nichtig erklären. Zufall? Wenige Tage zuvor hatte Edmund Stoiber Budapest besucht und sich für eine vorrangige Aufnahme Ungarns in die EU ausgesprochen.

Deutlicher ist die Unterstützung aus Österreich. Die Vize-Kanzlerin Susanne Riess-Passer (FPÖ) meinte Anfang Februar, die Frage der Benes-Dekrete müsse vor einem EU-Beitritt Tschechiens geklärt werden. Kanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) will die Dekrete in Verhandlungen mit Tschechien zu »totem Unrecht« erklären lassen. Anders als aus der von Prag favorisierten Formel »erloschene Dekrete« ließen sich aus dem Begriff »Unrecht« vermögensrechtliche Forderungen ableiten.

Auch die Vetriebenenfunktionäre verfolgen die Strategie der Internationalisierung. An einer Schaltstelle sitzt seit kurzem der Bundesvorsitzende der Sudetendeutschen Landsmannschaft und CSU-Abgeordnete im Europaparlament, Bernd Posselt. Anfang Februar wurde er zum Vizepräsidenten des Ausschusses Europäisches Parlament - Tschechisches Parlament gewählt. Dieser gemischte parlamentarische Ausschuss begleitet die einschlägigen Beitrittsverhandlungen.

Posselt, im vergangenen Oktober für seine »Verdienste um Volk und Staat« von Johannes Rau mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet, ist außerdem seit Jahrzehnten an führender Stelle für die Paneuropa-Union-Deutschland aktiv, eine einflussreiche und international tätige rechtskonservative Organisation, die ein geeintes Gesamteuropa unter deutscher Führung anstrebt. Zu den politischen Zielen der Paneuropa-Union gehört ein europäisches »Volksgruppenrecht«, das unter anderem den Sudetendeutschen Sonderrechte in der Tschechischen Republik verschaffen würde.

In seinem 1994 erschienenen Buch »Sturmzeichen« entwickelt Posselt den Plan, die Herkunftsgebiete der deutschen »Vertriebenen« direkt oder indirekt unter deutsche Hoheit zu stellen. Er plädiert für eine »übernationale Rechtsordnung, die auf die Tradition des Heiligen Römischen Reiches zurückgeht«. »Multinationale Regionen« - gemeint sind die Herkunftsgebiete der »Vertriebenen« - sollen entweder »direkt der europäischen Ebene« oder gleich unter die »Oberhoheit beider Nachbarstaaten« gestellt werden. Deutschland könnte dann Teile der Tschechischen Republik verwalten.

Bereits im Mai 2001 hat sich Posselt im parlamentarischen Ausschuss mit der Forderung durchgesetzt, dass Tschechien mit dem EU-Beitritt den Landerwerb von Sudetendeutschen zulassen müsse. Beim »Tag der Heimat« des Bundes der Vertriebenen im September 2001 ging Stoiber einen Schritt weiter. Er forderte die tschechische Regierung im Namen von »Bayerns viertem Stamm«, den Sudetendeutschen, auf, die Benes-Dekrete zurückzunehmen, in denen 1945 u.a. die Enteignung der Deutschen und die Bestrafung der von den Nazis begangenen Verbrechen verfügt worden war. Die Rücknahme der entsprechenden Verfassungsdekrete hätte eine Welle von Entschädigungsklagen gegen die Tschechische Republik zur Folge.

Als zweiter Festredner erinnerte Peter Glotz (SPD) daran, was Kanzler Gerhard Schröder im Jahr zuvor an derselben Stelle ausgerufen hatte: »Vertreibung, daran kann es keinen Zweifel geben, ist stets ein Unrecht.« Glotz begrüßte den »politischen Paradigmenwechsel«, den Schröder damit eingeleitet habe. Im Anschluss verglich Glotz die 1945 im Potsdamer Abkommen beschlossene Umsiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei mit den Ereignissen von Srebrenica.

Die Konsequenz dieser Rhetorik formulierte in der vorigen Woche die FAZ und drohte dem tschechischen Ministerpräsidenten: »Der Kern des Problems liegt darin, dass der Ministerpräsident eines Landes, das der Nato bereits angehört und sich der EU anschließen möchte, nun unter dem dringenden Verdacht steht, die Deportation von ganzen Bevölkerungsgruppen für ein legitimes Mittel der Lösung nationaler Konflikte zu halten. Milosevic muss sich in Den Haag auch deshalb vor Gericht verantworten, weil er dieses Mittel angewandt hat.«

Bereits Ende Januar waren in einer Aktuellen Stunde des Bundestages über Äußerungen Zemans Drohungen laut geworden. Er hatte im Januar darauf hingewiesen, dass die Sudetendeutschen froh sein können: »Wenn sie vertrieben oder transferiert worden sind, war das milder als die Todesstrafe.« Schließlich hätte Landesverrat nach damaligem Recht auch mit der Todesstrafe geahndet werden können.

Christoph Zöpel (SPD), ein Staatsminister im Auswärtigen Amt, versuchte sich im Bundestag als Prophet: »Ich gehe davon aus, dass wir in einigen Wochen feststellen können, dass auch die tschechische Regierung alles tut, um den Beitritt Tschechiens möglich zu machen.« Die Bundesregierung wolle zusammen mit den Sudetendeutschen dafür sorgen, dass es zu einer »weiteren Aufarbeitung nicht gelöster Probleme kommt«.

Auch wenn sich die Regierung die sudetendeutschen Forderungen nicht gänzlich zu eigen macht, so bilden sie doch ein willkommenes Faustpfand in den Verhandlungen über den EU-Beitritt Tschechiens. Ein zentraler Bereich ist dabei der Agrarsektor. Die EU will die Bauern Osteuropas erheblich geringer subventionieren als die westeuropäischen.

Auf der sudetendeutschen Bundesversammlung in München gab Mitte Februar deren Sprecher Johann Böhm die Richtung der Zusammenarbeit mit der rot-grünen Regierung vor. Er unterstrich, dass es in den vergangenen Jahren gelungen sei, das sudetendeutsche Anliegen zu internationalisieren. Nun komme es darauf an, die Sache im Rahmen der EU durch kluges Vorgehen auf der Tagesordnung zu halten. Posselt bemerkte auf der Versammlung: »Dreimal hat das Europäische Parlament seit 1999 Prag zur Überprüfung und Aufhebung der Benes-Dekrete aufgefordert.« Auf Dauer könne das Straßburger Parlament aber nicht mehr für die Sudetendeutschen tun als Deutschland selbst.