Coil auf Tournee

Der krasse Scheiß

Coil schreiben die wirre Geheimgeschichte der Popkultur.

In »Wreckers Of Civilisation«, einem Buch des Autors Simon Ford über die Geschichte der Band Throbbing Gristle, gibt es ein interessantes Foto: Es zeigt drei ineinander verschlungene nackte Körper, die auf dem Boden liegen, mitten in einem Galerieraum. Rund um diese drei Körper herum sitzen Zuschauer und blicken mit ratlosen Gesichtern auf das sich ihnen darbietetende Szenario: den Auftritt der Performancegruppe Coum Transmissions in einer Galerie in Southampton 1975.

Erst saßen die drei Performer in den Ecken des Raums und verrichteten alltägliche Dinge wie Lesen oder Fußnägellackieren. Dann fingen sie an, sich auszuziehen, sich mit Kunstblut zu bespritzen, mit Messern herumzufuchteln, (Kunst-)Narben zu entblößen, einen pornografischen Roman zu lesen und daraufhin zu onanieren. Genesis P-Orridge, Cosey Fanni Tutti und Peter »Sleazy« Christopherson aka Coum Transmissions nannten das Kunst.

Was Coum Transmissions und die aus der Gruppe hervorgegangene Band Throbbing Gristle damals vorhatten, ist ein Totalangriff auf tradierte Wahrnehmungen. Also: Weg mit allen Tabus, Befreiung von sämtlichen Zwängen, die Spektakel-Gesellschaft angreifen etc. Das leuchtet erst einmal ein, einem Linken muss man diesen Impetus nicht groß erklären, denn dass das System in die Tonne gekloppt gehört, versteht sich ja von selbst.

Ein anderes Szenario: Man stelle sich einen Jungen vor, der ständig von Visionen heimgesucht wird, der aus dem Fenster schaut und Leichen sieht, der auf dem Sportplatz von geflügelten Boten besucht wird, dem merkwürdige Vögel Botschaften überbringen. Der Junge ist zwölf Jahre alt und heißt John Balance. Er tut sich mit einem Freund zusammen, und beide fangen an, sich mit Satanismus zu beschäftigen und werden von einem Lehrer in okkulten Dingen unterrichtet. Der Freund hält es irgendwann nicht mehr aus und zeigt den Lehrer an, weil dieser angeblich eine sexuelle Beziehung zu John unterhält. Parallel dazu schluckt dieser in einem fort Magic Mushrooms. Seine Eltern ziehen dauernd um, weil sein Vater bei der Royal Air Force arbeitet. Als er in Deutschland lebt, hofft John inbrünstig, die Rote Armee Fraktion möge seinen Vater in die Luft sprengen, damit das ewige Umziehen ein Ende habe. Zu dieser Zeit, in den späten Siebzigern, setzt sich John Balance mit Throbbing Gristle in Verbindung. Weil ihm das Konzept der Band gefällt, und vor allem Peter Christopherson hat es ihm angetan. Christopherson wird »Sleazy« gerufen, weil er - wie Cosey Fanni Tutti später zu Protokoll gibt - ganz bestimmte Vorlieben hatte: »Er interessierte sich für die Sex-Seite unserer Arbeit, und deshalb nannten wir ihn 'Sleazy'.«

Christopherson und Balance - das britische Musikmagazin The Wire nennt sie »Rimbaud und Verlaine auf E« - gründen dann 1983 die Band Coil. Ihre erste Platte heißt »How To Destroy Angels«, ihr Sound wird auf dem Cover als »ritual music for the accumulation of male sexual energy« bezeichnet und bestand vor allem aus Gongschlägen und dem Geräusch, das beim Herumfuchteln mit Schwertern entsteht. Zur Gestaltung ihres Albums »Scatology« haben sie sich zudem ein paar schöne Fotos ausgedacht, die Balance und Christopherson scheißebeschmiert zeigen und die man sich auf der Coil-Homepage anschauen kann (www.brainwashed.com/coil). Das Video zu ihrer Coverversion von »Tainted Love«, in dem es um Autounfälle und viel Blut geht und das Marc Almond in der Hauptrolle des Todesengels zeigt, wurde zwar verboten, fand aber seinen Weg in das Museum Of Modern Art von New York. Ihr Soundtrack zu dem Horror-Film »Hellraiser« von Clive Barker geriet ihnen sogar so unheimlich, dass sich das Filmstudio weigerte, ihn einzusetzen. Und ihr Album »Love's Secret Domain« handelte - aufgepasst! - vor allem von der Substanz, auf die die Anfangsbuchstaben des Titels verweisen. Darum geht es also bei Coil, um Sex, Okkultismus, Drogen, Kunst, Film, Verbote. Was zusammengenommen ein kompliziertes Verweissystem ergibt, eine Anbindung an etwas, das man eine kulturelle Geheimgeschichte nennen könnte. Sie dockt bei Leuten an, die zu anderen Zeiten ähnlich vorgingen, etwa William S. Burroughs, Pier Paolo Pasolini oder Aleister Crowley. Aber auch Kate Bush, von der Balance bis heute glaubt, sie habe ihm in den Achtzigern über telepathische Kanäle einige Songs geraubt, findet in der Coil-Kosmologie als Teil einer weiblichen Gottheit ihren Platz.

Neben der Suche nach einem Anschluss an eine Geheimgeschichte geht es bei Coil natürlich trotz allem auch um Musik. Christopherson war einer der ersten, der auf der Bühne mit Vorläufern von Samplern experimentierte und der Tonbänder benutzte, um Geräusche zu loopen. Coil heißt so viel wie »Spule« oder »Transistor«, aber auch »Spirale«: das okkulte Symbol, das Ding gegen eine ungewollte Schwangerschaft und das Gerät, auf dem Tonbänder aufgewickelt werden, vereint in einem Namen.

Seit der Frühzeit von Rave geht es bei Coil auch um elektronische Musik. Ungefähr seitdem Balance auf der Tanzfläche Besuch von einem Engel bekam, der ihm leuchtend das flammende Buch der Bücher unter die Nase hielt und so den Weg wies.

Warum Coil das tun, was sie tun, ist einfach zu verstehen: Es macht ihnen eine Menge Spaß. Das Schadensprofil derer, die im Netz nach raren Aufnahmen fahnden und die zu den Konzerten der ersten Deutschlandtour von Coil pilgern werden, ist schon schwieriger zu ergründen. Will man die Elder Statesmen des psychoaktiven Extremsounds sehen, um sich zu versichern, dass es sie tatsächlich gibt? Will man sich in die Geheimgeschichte einschreiben? Aber wahrscheinlich ist die Frage falsch gestellt. Ab einem gewissen Grad macht es keinen wirklichen Unterschied, ob es die Außerirdischen wirklich gibt, ob sie Symbole für irgendetwas sind oder die Symptome von irgendetwas. Ab einem gewissen Grad zählt nur noch der Energielevel.

Konzerte von Coil am 10. April in Hamburg, 12. April in Berlin, 13. April in Glauchau.