Wirtschaftskrise und faschistische Tendenzen

Neues vom Untergang

Die politische und ökonomische Krise gehört in Serbien zum Alltag. Der Prozess gegen Slobodan Milosevic interessiert nur am Rande, dafür machen sich Verelendung und faschistische Tendenzen breit.

Ich bin 30 Jahre alt, habe noch nie einen Reisepass besessen und war nie im Ausland, aber das ist schon der dritte Staat, in dem ich lebe«, schreibt ein Leser an die Belgrader Tageszeitung Blic. Die Auflösung Jugoslawiens in die Teilstaaten Serbien und Montenegro zeigt einmal mehr, dass der Untergang Jugoslawiens ein Dauerzustand geworden ist. Passend dazu kleben auf Belgrader Straßen riesige Plakate mit der Aufschrift: »Serbien, mein Staat«. Auch den Untergang von Titos Jugoslawien begleiteten ähnliche Parolen. »Slowenien, mein Land«, hieß eine große Kampagne Ende der achtziger Jahre.

So richtig traurig über die Auflösung der Föderation ist fast niemand. Jugoslawien, das Land, das ethnische Zuschreibungen dem Kampf gegen den Faschismus unterordnete, ist längst Geschichte oder vielleicht schon wieder Utopie.

Für Empörung sorgte in Serbien allenfalls, dass es ausgerechnet Javier Solana war, der in seiner Funktion als außenpolitischer Koordinator der Europäischen Union die Einigung zwischen Serbien und Montenegro termingerecht zum EU-Gipfel in Barcelona vermittelte (Jungle World, 13/02). Noch vor drei Jahren hatte Solana als Nato-Generalsekretär den Angriff auf Jugoslawien angeführt.

Zum Jahrestag des Kriegsbeginns am 24. März organisierten Milosevics Sozialistische Partei Serbiens (SPS) und die rechtsradikale Serbische Radikale Partei (SRS) Vojislav Seseljs im ganzen Land Demonstrationen. Auf dem Platz der Republik in Belgrad versammelten sich etwa 3 000 Menschen, in der ganzen Stadt waren es überraschenderweise kaum 10 000. Vereinzelt wehte noch die alte jugoslawische Fahne mit dem roten Stern, eindeutig dominierend waren jedoch serbische Flaggen. »Freiheit für Milosevic, Tod Djindjic« stand auf Transparenten oder »Verräter nach Den Haag«.

»Verräter« meint vor allem den inzwischen zurückgetretenen serbischen Vizepremier Momcilo Perisic. Er ließ sich kürzlich dabei erwischen, wie er einem CIA-Mitarbeiter Unterlagen zusteckte. Perisic war bis 1998 Chef des jugoslawischen Generalstabs. Nachdem er dafür plädiert hatte, die UCK nicht mit der Armee, sondern mit der Polizei zu bekämpfen, wurde er abgesetzt.

In serbischen Medien finden sich nun verschiedene Interpretationen der Affäre. Eine besagt, Perisic habe schon als Generalstabschef für die CIA gearbeitet und somit Landesverrat begangen. Eine andere Version lautet, er habe mit der Übergabe von Milosevic belastenden Dokumenten seine eigene Auslieferung an das UN-Tribunal in Den Haag verhindern wollen. Eine dritte Variante schließlich behauptet, der Spionagefall sei eine Intrige, um einen Zeugenauftritt Perisics vor dem Tribunal abzuwenden.

Mittlerweile ist ein Dokument aus dem Jahr 1997 aufgetaucht, das tatsächlich eine Zusammenarbeit zwischen dem jugoslawischen Generalstab und der CIA zu belegen scheint und dessen Faksimile die Tageszeitung Politika abdruckte. Unterzeichnet ist das Papier von Milosevic.

Im Hintergrund steht der chronische Machtkampf zwischen dem serbischen Premier Zoran Djindjic und dem jugoslawischen Präsidenten Vojislav Kostunica. Dieser Konflikt beherrscht auch die Frage der Auslieferung weiterer Angeklagter an das Tribunal. Was Djindjic vor allem im Hinblick auf westliche Hilfe befürwortet, verweigert Kostunica mit dem Hinweis auf die fehlende Rechtsgrundlage. Schon anläßlich der Auslieferung Milosevics eskalierte dieser Konflikt, als Djindjic Recht Recht sein und den Ex-Staatschef nach Den Haag überführen ließ.

Damals wie heute wurde die Situation durch den drohenden Stopp westlicher Finanzhilfen bestimmt. Am 31. März lief ein US-amerikanisches Ultimatum ab, das die Bereitstellung zugesagter Kredite in Höhe von knapp 140 Millionen Euro von »demokratischen Prüfungen« abhängig machte. Nach dem Verstreichen des Ultimatums erklärte US-Außenminister Colin Powell, die Gelder wegen mangelnder Kooperation Belgrads mit dem Tribunal zu sperren. In dieser Woche will das jugoslawische Parlament das fehlende Auslieferungsgesetz beschließen. Aber noch ist kein Kompromiss absehbar.

Dabei herrscht in allen Parteien und Schichten Missmut über das dilettantische und hochmütige Vorgehen der Haager Ankläger. Das bedeutet keinen allgemeinen Zuspruch für Milosevic. Zur Demonstration am 24.März kamen hauptsächlich Leute aus den ärmsten Bevölkerungsschichten. Sie sind es, die unter dem Bombardement am meisten zu leiden hatten, und sie sind es, die von der beginnenden Wirtschaftsliberalisierung das Schlimmste zu fürchten haben.

Diese Verlierer des zehnjährigen Untergangs jubelten begeistert, als ein Redner auf der Kundgebung am Jahrestag des Nato-Kriegs die Mitglieder der Regierung als »Verräter, Spione und Schwule« beschimpfte. Ansonsten wies die geringe Beteiligung an Demonstrationen darauf hin, dass der Haager Prozess - entgegen den ersten Vermutungen - bei den meisten erstaunlich wenig Emotionen auslöst.

Die Fernsehabteilung des Senders B 92 überträgt die Verhandlungen live. An einem Tag geht es um die Flugbahn einer einzigen Kugel, die an einem bosnischen Kampfplatz drei Männer verletzt hat. Die Befragung der Anwälte ist penibel: Wo stand die jugoslawische Bundesarmee? Wieso traf die von links kommende Kugel den Zeugen an der rechten Hüfte? In den Befragungspausen flimmert der Name einer Kaffeefirma über den leeren Zeugenstand vor der UN-Flagge über den Bildschirm. Ein deprimierender Eindruck.

Offensichtlich ist es für die so genannte »internationale Gemeinschaft« einfacher, den Verlauf jeder einzelnen Kugel in den jugoslawischen Kriegen juristisch zu verfolgen, als auch nur einen einzigen Gewehrschuss zu verhindern.

Nein, die Mehrheit sah die Übertragung nicht, meint ein liberaler Aktivist. Manche wollten gar nicht erfahren, was sich in den Kriegen zugetragen habe. Viele seien mit dem ökonomischen Überleben beschäftigt und deshalb kaum interessiert. Und die Mehrheit der Prozessbefürworter sei darüber erleichtert, die alleinige Verantwortung für die Kriege auf Milosevic abschieben zu können.

Für viele Belgrader Intellektuelle sind andere Dinge interessanter. Etwa ein Streit über Political Correctness. Eine Gruppe namens Post-Pessimisten hat zur Podiumsdiskussion ins Haus der Jugend eingeladen. Auf dem Podium sitzen, neben Liberalen wie Biljana Srbljanovic und Obrad Savic, auch die Popfaschistin und ehemalige Akademiedozentin Isidora Bielica. Sie und ihr Mann Nebosja Pajkic bezeichnen sich offen als Nazis und Anhänger von Dimitrije Ljotic, dem faschistischen Kollaborateur unter der deutschen Besatzung.

Im politischen Mainstream sind es »Anti-Antifaschisten«, die den Ton angeben. So werden allmählich antifaschistische Straßennamen aus dem Stadtbild entfernt. Der »Boulevard der Revolution« heißt nun nach dem 1934 ermordeten König Alexander, die »Straße der Volksfront« wird künftig den Namen einer Prinzessin Natalie tragen. Bei so viel Königstreue verwundert es nicht, dass Präsident Kostunica das Grab des Tschetnikführers Draza Mihailovic an dessen Todestag besuchte.

Mit Drazas Namen ist auch das Mahnmal am ehemaligen Belgrader Konzentrationslager beschmiert. In unmittelbarer Nähe, auf dem früheren Messegelände, stehen Hütten, die aus dem Kosovo geflüchtete Roma bewohnen. Seit ihrer Vertreibung durch die UCK hausen sie in Siedlungen aus Plastikplanen und Decken zwischen den Hochhäusern in Novi Beograd. Jetzt werden sie von dort sukzessive vertrieben, diesmal aus ökonomischen Gründen. Kroatische und slowenische Firmen haben große Grundstücke aufgekauft, die nun geräumt werden sollen.

Auch Serbien ist in der so genannten Transitionsphase angelangt. In der liberalen Ideologie als Übergang zu Freiheit und Wohlstand gepriesen, ist sie in der Realität eine Phase der Pauperisierung, oft einhergehend mit faschistischen Tendenzen. Als eine Bekannte in einem traditionsreichen Belgrader Lokal den Kellner bittet, die Tschetnikgesänge (»Wir töten, wir schlachten«) zu unterbinden, antwortet dieser nur trocken: »Das ist nicht mehr verboten, wir haben jetzt die Demokratie.«