Dokumentation der Verbrechen des Militärs

Erinnerung an die Junta

Während der argentinischen Militärdiktatur wurden etwa 30 000 Menschen ermordet. Das Projekt Memoria Abierta dokumentiert nun die Aussagen von Angehörigen und überlebenden Oppositionellen.

Familienfeste erinnern Maria Eisenberg * daran, »dass die Festtafel eigentlich leer ist«. Im letzten Monat feierte sie ihren achtzigsten Geburtstag. Er fällt fast mit dem Jahrestag des Putsches der argentinischen Militärs am 24. März 1976 zusammen, durch den sie ihren Mann, ihre vier Töchter und ihre Schwiegersöhne verlor. Ab April 1976 »verschwanden« sie, einer nach dem anderen. Ihr Mann schrieb regierungskritische Bücher, die Töchter symphatisierten mit den linken Montoneros.

In dem vom Militär als »Kampf gegen die Subversion« bezeichneten Feldzug gegen die Opposition »verschwanden« in der Zeit der Diktatur von 1976 bis 1983 etwa 30 000 Menschen. Fast alle wurden ermordet, nur wenige kamen, meist auf ausländische Intervention, wieder frei.

Bei der Menschenrechtsorganisation Memoria Abierta (offenes Gedächtnis) sprach Maria Eisenberg nun zum ersten Mal öffentlich über die Geschehnisse. In einem mehr als zwei Stunden dauernden Interview erzählte sie ihre Geschichte. Von ihrer Kindheit, der jungen Ehe, »als Politik eigentlich nicht etwas war, was uns besonders betraf«, bis zum staatlichen Terror, für den ihr auch nach über 20 Jahren die Worte zu fehlen scheinen.

Außer ihr haben 150 andere Betroffene der Diktatur am Projekt des »mündlichen Archivs« teilgenommen, über 120 Namen stehen noch auf einer Warteliste. Vor allem ältere Menschen und Personen, deren Zeugnis als ehemalige Verschwundene oder Oppositionelle von besonderer Wichtigkeit sein könnte, wurden in der ersten Phase des Projekts befragt. Nach der Klärung rechtlicher Voraussetzungen sollen die Interviews, sofern die Befragten einverstanden sind, für die Öffentlichkeit zugänglich sein.

»Wir möchten, dass die Geschichte von den wirklich Beteiligten erzählt wird«, erklärt die Koordinatorin des Programms, Alejandra Naftal, die früher selbst als »verschwunden« galt, der Jungle World. 1998 unter der Schirmherrschaft von acht Menschenrechtsorganisationen entstanden, unter anderem der Gründerinnen der Mütter des Plaza de Mayo, hat Memoria Abierta sich vor allem die Aufgabe gestellt, die Errichtung eines »Museums der Erinnerung« zu forcieren und das Material dafür bei den Menschenrechtsorganisationen zu sichten, beziehungsweise im Falle der Interviews selbst herzustellen.

Im Laufe des letzten Jahres recherchierten die sieben MitarbeiterInnen zusammen mit der Leiterin des Forschungszentrums historia oral an der Universität von Buenos Aires, der Professorin Dora Schwarzstein, und drei Historikern zunächst die Lebensgeschichte der Interviewten und versuchten, danach einen offenen Fragenkatalog für jede Person aufzustellen. In Marias Fall war das gar nicht so leicht, denn »man kann ja nicht einfach jedes verschwundene Familienmitglied mit einer Frage abhaken«, so Federico Lorenz, der sie interviewte. Die psychischen Belastungen für alle Beteiligten sollten zumindest gelindert werden. Nicht nur die Befragten, die teilweise zum ersten Mal ihre Erlebnisse vor »fremdem« Publikum schilderten, auch die Interviewer erhielten professionelle Unterstüzung von einem Team mehrerer Psychologen.

Auf verschiedenen Kongressen diskutierte Memoria Abierta unter anderem mit Vertretern der Gedenkstätte Yad Vashem und des United States Holocaust Memorial Museum über Konzepte und über die Frage, ob die staatliche Marineschule Esma, damals das größte Folterzentrum des Landes, als Ort der Dokumentation geeignet ist. Esma wurde zwar im Juli 2000 offiziell auch von der Regierung der Stadt Buenos Aires als bewahrenswerter Ort für ein zukünftiges Museum anerkannt, dient aber bereits seit dem Ende der Diktatur im Jahr 1983 wieder als reguläre Marineschule. Der ehemalige Präsident Carlos Menem scheiterte mit seinem Vorhaben, das Gebäude dem Erdboden gleich zu machen, um anschließend auf dem Gelände ein Denkmal der »Versöhnung« zu errichten. Doch wie aus der formalen Anerkennung der staatlichen Verbrechen ein reales Museum werden soll, darüber hüllen sich auch seine Nachfolger in Schweigen.

Hohe Offiziere der Militärjunta werden heute in Argentinien nicht mehr öffentlich hofiert, die juristische Verfolgung ihrer Verbrechen blieb allerdings auf wenige Fälle beschränkt. Seit der unter Raúl Alfonsin beschlossenen Amnestie von 1986/87 und der drei Jahre später von seinem Nachfolger Carlos Menem erlassenen Begnadigung aller noch inhaftierten Militärs sind lediglich die hohen Juntamitglieder noch in Haft, beziehungsweise in luxuriösem Hausarrest. Ihnen konnte in späteren Prozessen Kindesentführung nachgewiesen werden, ein Delikt, das nicht unter das Amnestiegesetz fällt. Sie hatten dafür gesorgt, dass die Kinder »Verschwundener« von loyalen Anhängern der Diktatur zwangsweise adoptiert wurden.

Einige untere gerichtliche Instanzen haben das Amnestiegesetz und die Bestimmung über den »Befehlsnotstand«, die praktisch alle Täter außer den Mitgliedern der Junta von strafrechtlicher Verfolgung ausschloss, für verfassungswidrig erklärt. Eine bindende Wirkung in folgenden Prozessen haben diese Urteile jedoch nicht. Daher können Verfahren gegen die Täter der Diktatur faktisch nur im Ausland angestrengt werden.

Allerdings verweigerte bisher jede argentinische Regierung die Auslieferung im Ausland verurteilter ehemaliger Militärs. Und auch die Strafverfolgung im Ausland verläuft häufig schleppend. Bereits seit mehr als zwei Jahren ermittelt die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth gegen Manager von Daimler-Chrysler wegen ihrer Rolle bei der Verfolgung und Ermordung argentinischer Gewerkschafter während der Militärdiktatur. Noch immer behauptet der VorstandsvorsitzendeJürgen Schrempp, von Menschenrechtsverletzungen während dieser Zeit nichts gewusst zu haben, und weigert sich, mit der Staatsanwaltschaft zusammenzuarbeiten.

Während der Aktionärsversammlung des Konzerns am Mittwoch vergangener Woche rang er sich immerhin dazu durch, der seit Monaten angekündigten Einsetzung eines internen Untersuchungsausschusses nun »nicht mehr im Wege zu stehen«. Eine Voraussetzung aber ist es, dass diese Kommission nicht vom argentinischen Friedensnobelpreisträger Adolfo Perez Esquivel geleitet wird, denn er gilt wegen seines aktiven Engagements in der Menschenrechtsbewegung dem Unternehmen als »befangen«.

* Name von der Redaktion geändert.