Vor den Präsidentschaftswahlen in Frankreich

Vive la trance!

Die trotzkistische Kandidatin Arlette Laguiller könnte für eine große Überraschung bei den französischen Präsidentschaftswahlen sorgen.

Die Republik ist im Wahlkampf. An den beiden letzten Wochenenden im April sowie voraussichtlich in einer Stichwahl Anfang Mai werden die französischen Bürger einen neuen Präsidenten wählen, im Juni folgen dann in zwei Durchgängen die Parlamentswahlen. Drei Momente charakterisieren den aktuellen Wahlkampf: Die neoliberalen Kräfte bleiben stark, auch wenn sie die Bühne noch nicht völlig erobern konnten. Die nationalistischen und rechtsextremen Ideologien gewinnen an Bedeutung. Sie haben sich mittlerweile auch in gesellschaftlichen Kreisen etablieren können, die ihnen lange verschlossenen blieben. Stark diskreditiert hingegen hat sich die regierende Linke.

Ob die Regierungskoalition aus Sozialisten, Kommunisten und Grünen nach den Parlamentswahlen noch einmal im Amt bestätigt wird, ist äußerst zweifelhaft. Ihre Bilanz fällt selbst für viele ihrer Anhänger erbärmlich aus. Nicht nur, dass sie die minimale Erwartung der Wähler an mehr »soziale Gerechtigkeit« nie hat erfüllen können. Inzwischen ist diese Forderung aus ihrem Diskurs sogar völlig verschwunden.

Bei den Präsidentschaftswahlen hingegen hat der liberal-gaullistische Jacques Chirac (RPR), der das Amt bereits seit 1995 ausübt, derzeit gute Chancen. Er löste nach heftigen sozialen Protesten Mitte der neunziger Jahre das Parlament auf, verlor aber die folgende Neuwahl. Seit 1997 gibt es deshalb einen rechten Staatschef im Palais de l'Elysée und einen linken Premierminister in der Hôtel de Matignon.

Präsident Chirac muss nun sein Amt gegen den Premier und Führer der regierenden Linken, Lionel Jospin, in einem Wahlkampf verteidigen, dem es komplett an eindeutigen Inhalten fehlt und dessen Favoriten jedes Gespür für die gesellschaftliche Krise abgeht. Das ist das Resultat einer Politik, die sich im Laufe der Zeit immer mehr entpolitisiert hat. Mal gibt sich Chirac sehr »sozial«, während Jospin den »liberalen Modernisierer« markiert, mal ist es umgekehrt. In diesem Zusammenhang ist das Verb »regieren« kein Schlüsselwort mehr, da sich die Kandidaten mehr als Geschäftsführer und Manager denn als Politiker verstehen.

Die Debatten im Wahlkampf sind inhaltsleer und zugleich konservativ. Es gibt keinen Grund zur Begeisterung, keine Projekte, keine Träume, die Kampagnen bewegen sich in einer verdrießlichen und stumpfsinnigen Atmosphäre, obwohl die großen Probleme nach wie vor unbewältigt sind. Trotz der relativen Verbesserung der Arbeitslosenzahlen unter der Regierung Jospin gab es in der Nachkriegszeit noch nie eine Periode, in der Elend und soziale Entfremdung solche Ausmaße angenommen hätten wie in der vergangenen Dekade. Etwa sechs Millionen Menschen leben derzeit in Frankreich unter der Armutsgrenze. Vom Rückgang der Arbeitslosigkeit seit 1997 haben viele Jugendliche profitiert. Doch sie kamen zumeist nur in staatlich unterstützten, befristeten und prekären Arbeitsverhältnissen unter.

Etwa 600 000 Personen leben und hungern auf der Straße, wie eine kürzlich durchgeführte Untersuchung der Tageszeitung Le Monde gezeigt hat. Der Unterschied zwischen Arm und Reich ist heute größer als zu Beginn der sozialistischen Regierung. Im vergangenen Jahr wurden so viele rassistische und antisemitische Übergriffe gezählt wie seit langem nicht mehr. Und nie waren die Anzeichen des Argwohns und des Hasses auf die Symbole und Aktivitäten der Republik und des Staates so deutlich spürbar wie in der nun ablaufenden Amtszeit der Linksregierung.

In den letzten zwei Jahrzehnten haben sich die beiden bislang führenden politischen Fraktionen - die konservativ-liberalen Parteien RPR und UDF sowie die Sozialistische Partei - daran gewöhnt, dass eine permanente Krise der Normalzustand der Weltordnung ist, die man allenfalls am Rande etwas korrigieren kann.

Entsprechend gering fällt auch das Interesse der umworbenen Wähler aus. Ein Resultat könnte sein, dass der nächste Präsident im ersten Durchgang kaum mehr als 20 Prozent der Stimmen auf sich vereinigt. So zumindest lauten die jüngsten Umfragewerte für Jospin und Chirac, was einen Negativrekord bedeuten würde.

Vor allem die Anhängerschaft der traditionellen linken Parteien ist enttäuscht und traut der Regierung nicht mehr zu, die zahlreichen wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu lösen. Die Kommunistische Partei hat sich endgültig in eine sozialdemokratische verwandelt. Ihrem Kandidaten werden etwa sechs Prozent prognostiziert. Die Sozialistische Partei orientiert sich an Tony Blair und Gerhard Schröder und verfolgt eine »moderne«, also liberale Politik.

Die rechtsextremen Parteien - der Front National des Jean-Marie Le Pen und der Mouvement National Républicain des Bruno Mégret - liegen zusammen konstant bei etwa zehn bis zwölf Prozent. Zwar verzeichnen sie keinen Anstieg im Vergleich zu den letzten Präsidentschaftswahlen, aber wichtiger als ihr konkreter Stimmenanteil ist, dass die Themen der Rechtsextremen nunmehr zum Repertoire nahezu des gesamten Parteienspektrums gehören. So etwa die »Sicherheit«, die heute im Mittelpunkt der politischen Propaganda steht. Die »Sicherheitsdebatte« ist auch der einzige wirkliche Streitpunkt in diesem Wahlkampf; natürlich nicht als Auseinandersetzung verschiedener Positionen, sondern als Wettbewerb, wer mehr »Sicherheit« zu bieten hat.

Diese Entwicklung beweist, was Sozialwissenschaftler wie Pierre Bourdieu bereits Anfang der neunziger Jahre skizziert haben. Die Krise soll mit polizeilichen Mitteln beendet werden, der Sozialstaat (Etat social) wird vom Strafstaat (Etat pénal) abgelöst. Von Charles Pasqua bis Jacques Chirac auf der rechten, von Jean-Pierre Chévenement bis Lionel Jospin auf der linken Seite haben sich die meisten Kandidaten dafür ausgesprochen, gesonderte Gefängnisse zu errichten, und zwar für die neuen »gefährlichen« Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 18 Jahren.

Vergessen sind hingegen die letzten großen sozialen Kämpfe vom Dezember 1995, als Millionen Franzosen auf die Straße gingen und das öffentliche Leben des Landes für drei Wochen lahm legten. Diese neuen sozialen Bewegungen blieben letztlich erfolglos, ihre Forderungen wurden zwar nicht aufgegeben, aber die Erwartungen sind der Frustration gewichen.

Davon zeugt auch die Pulverisierung der Öffentlichkeit, die man etwa an der Rekordzahl von 16 zugelassenen Präsidentschaftskandidaten, darunter zwölf Männer und vier Frauen, ablesen kann. Inmitten einer bunten Mischung findet sich auch eine linke Option. Arlette Laguiller, die Spitzenkandidatin der trotzkistischen Lutte Ouvrière (Arbeiterkampf), kann zur größten Überraschung dieses Wahlkampfes werden. Meinungsumfragen geben ihr zehn bis zwölf Prozent der Stimmen. Laguiller wirbt unter anderem mit der Forderung, Unternehmen zu verstaatlichen, wenn sie massenhaft Mitarbeiter entlassen. Die Regierungskoalition, zu der auch die Grünen mit ihrem Spitzenkandidaten Daniel Cohn-Bendit gehören, findet solche Forderungen lächerlich.

In der ersten Wahlrunde am kommenden Sonntag hat Laguiller zwar keine Chance, ihr Wählerpotenzial wird aber interessant für Jospin, wenn er, wovon alle Welt ausgeht, am 5. Mai gegen Chirac in der Stichwahl antritt. Die Trotzkistin will keine Empfehlung zugunsten des sozialistischen Kandidaten abgegeben, und ihre Weigerung könnte Jospin, der erst kürzlich zugegeben hat, in seiner Jugend selbst Trotzkist gewesen zu sein, durchaus den Wahlsieg kosten.