Der Übersetzer Richard Sonnenfeldt über die Nürnberger Prozesse

»Ribbentrop war ein Idiot«

Richard Sonnenfeldt wurde 1923 im sachsen-anhaltinischen Gardelegen geboren. Mit 15 Jahren flüchtete er aus Deutschland. Nach einer langen Odyssee landete er schließlich 1941 in den USA. Als amerikanischer Soldat kam Sonnenfeldt zurück nach Europa, um gegen die Deutschen zu kämpfen. Nach dem Krieg arbeitete er als Chefdolmetscher bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen und verhörte die angeklagten Nazis. Die Ergebnisse seiner Befragungen wurden als Beweise in den Kriegsverbrecherprozessen benutzt.

Sie waren in Deutschland in verschiedenen Schulen eingeladen. Was erzählen Sie den Schülern?

Ich erkläre, dass ich hier als deutscher Junge aufgewachsen bin. Und dass damals Gehorsam als wichtig angesehen wurde. Du musstest machen, was man dir sagte. Dem Lehrer, den Eltern, allen erwachsenen Leuten durfte man nicht widersprechen.

Würden Sie sagen, dass dieser Gehorsam etwas spezifisch Deutsches war?

Ja, der Gehorsam war in Deutschland größer als in England, Amerika oder Frankreich. Als ich ein Junge war, da wurde mir gesagt, jeder Deutsche hat einen anderen über sich. Wenn wir uns mit jemandem unterhielten, mussten wir zuerst feststellen, steht der über uns oder unter uns. Hitler hat dieses Verhalten benutzt. Er war für viele ein Übermensch, und die Deutschen haben ihm gehorcht.

Sie kamen 1944 als Soldat nach Europa. Welchen Eindruck hatten sie von der deutschen Bevölkerung in der letzten Phase des Krieges?

Ich hatte nicht viel Zeit, um mit Deutschen zu sprechen, denn ich saß als Soldat in einem Panzer. Aber die Deutschen haben bis zuletzt gekämpft, und das war verrückt. Die Soldaten haben gesagt, sie kämpfen für den Führer. Wenn man einen amerikanischen Soldat gefragt hat, wofür er kämpft, hat er geantwortet, für mein Land, für die Verfassung, für die Bill of Rights. Kein amerikanischer Soldat hat jemals geglaubt, dass er für seinen Präsidenten kämpft. Als der Führer sich dann umbrachte, hatten der deutsche Soldat und das deutsche Volk gar nichts mehr.

Hitler hatte zuvor erklärt, ein Volk das schwach sei und besiegt werde, dürfe nicht leben. In den letzten Wochen gab er den Befehl, ganz Deutschland zu zerstören. In dem Moment sagten Hermann Göring und Albert Speer, dieser Mann ist verrückt.

Haben Sie die Informationen durch Ihre Arbeit bei den Nürnberger Prozessen bekommen und konnten Sie diesen Leuten glauben?

Ich habe als Übersetzer angefangen, aber ich habe Hunderte von Stunden mit Leuten wie Hermann Göring, Albert Speer oder dem Kommandanten von Auschwitz, Rudolf Franz Ferdinand Höß, verbracht. Irgendwann fängt man an, diese Leute zu durchschauen. Ich konnte schon an der Stimme hören, wann sie logen.

Was waren das für Menschen?

Sie waren unterschiedlich. Göring war ein Raubritter. Er hat herzlich gelacht und Witze gemacht. Das war ein Mann, der nur Macht wollte. Und wenn Antisemitismus der Weg zur Macht war, dann war er Antisemit.

Joachim von Ribbentrop, der NS-Außenminister, war ein blubbernder Idiot. Er hat unendlich viel Unsinn geredet. Er hatte einen Bürochef, Ernst Freiherr von Weizsäcker, den habe ich gefragt, wie war es möglich, dass dieser Mensch Außenminister wurde? Er sagte zu mir, das habe er sich auch immer gefragt, aber Hitler habe immer nur geredet und sowieso nie jemandem zugehört.

Und dann gab es Leute wie Julius Streicher, die haben mich angeekelt. Die würde ich nur mit Gummihandschuhen anfassen. Oder Rudolf Hess, der war verrückt.

Aber bei den Nazis ist er immer noch beliebt. An seinem Todestag finden Demonstrationen statt.

Idioten und Verrückte gibt es überall. Wie kann es beispielsweise sein, dass es in Amerika Leute gibt, die sich weiße Kapuzen überziehen und Häuser verbrennen?

Sie würden also keinen Unterschied machen zwischen Deutschland und den USA?

Der große Unterschied ist, dass in den USA der Glaube an die Verfassung und das Menschenrecht fast heilig ist. Das heißt nicht, dass jeder Mensch das so sieht, aber 85 oder 90 Prozent der Bevölkerung. Diese Einstellung geht auf die jahrhundertelangen Erfahrungen mit der Demokratie zurück. Es kann auch in den USA Rassismus und Antisemitismus geben, aber die Gesellschaft ist stabiler als in Deutschland, wo der Glaube an das Menschenrecht und die Verfassung noch nicht so gefestigt ist.

Waren die NS-Prozesse für die demokratische Zukunft Deutschlands die richtige Vorgehensweise? Die meisten Täter kamen mit geringen Strafen davon oder wurden gar nicht verfolgt.

Ich war ja nur bei den ersten Nürnberger Prozessen dabei. Meine Überzeugung ist, dass die Urteile gerecht waren. Es ist besser, ein zu mildes Urteil zu fällen, als Leute zu verurteilen, die es nicht verdient haben. Es ist versucht worden, rechtmäßig vorzugehen. Das war nötig für die Zukunft. Wenn das Recht verletzt worden wäre, wäre die ganze Sache wertlos gewesen. Die Frage für uns war, soll man die Leute vor Gericht bringen, soll man sie erschießen oder soll man sie freilassen. Das war keine perfekte Wahl, aber die Entscheidung, sie vor Gericht zu bringen, war richtig.

Sie haben die Deutschen als gehorsam beschrieben? Gilt diese Charakterisierung auch für die Angeklagten?

Gehorsam? Sie waren Kriecher. Ihre Mittelmäßigkeit, ihre Gewissenlosigkeit und ihren Ehrgeiz konnte man genau daran messen, wie lange sie mit Hitler zusammen waren. Denn welcher Mensch kann es länger mit einem Diktator aushalten, der jeden nur beleidigt. Sie waren nicht dumm, sondern moralisch nicht ausgebildet. Sie hatten kein Gewissen.

Wilhelm Keitel war der höchste deutsche Offizier. Sein Schwiegervater, Kriegsminister Werner von Blomberg, bezeichnete ihn als einen Briefträger. Keitel wusste, dass er kriminelle Befehle an die Soldaten schickte.

Trotzdem hat er die Befehle gegeben...

Ich habe ihn gefragt, warum er es getan hat. Es waren doch Führerbefehle, war seine Antwort. Keitel war so dumm, dass er die Bemerkungen von Hitler nicht in Anordnungen umwandeln konnte. Dafür hatte er Generaloberst Alfred Jodl. Er war etwas intelligenter und veröffentlichte dann die kriminellen Verordnungen. Auch Jodl habe ich gefragt: Wussten Sie, dass die Anordnungen kriminell waren? Ja, hat er geantwortet, ich habe es auf Befehl von Keitel getan.

Da konnte man die ganze Leiter bis zum letzten Feldwebel hinuntergehen und fragen, warum hast du das getan, und immer war die Antwort: »Weil es mir befohlen wurde«.

Wie war Ihr Eindruck von Deutschland nach 1945?

Ich bin seit 1958 jedes Jahr geschäftlich in Deutschland gewesen, aber nur im Westen. Damals war mein Eindruck, dass die ältere Generation von der Vergangenheit nichts wissen wollte. Und junge Leute haben zu mir gesagt: Wir haben keine Ahnung, kannst du uns erklären, wie so etwas passieren konnte? Ich habe sie dann gefragt, ob sie über den Nationalsozialismus nicht mit ihren Eltern oder Großeltern reden können. Da haben sie geantwortet, dass das nicht möglich ist.

Wir haben in Amerika dafür einen passenden Ausdruck: generation gap, eine Lücke zwischen den Generationen. In Deutschland gab es keine Lücke, da gab es einen Ozean.

Wie empfinden Sie die Stimmung in Deutschland heutzutage?

Seit der Wiedervereinigung will Deutschland etwas mächtiger auftreten. Solange die Teilung bestand, haben die Deutschen gesagt: »Wir sind gute Europäer.« Jetzt sind die Deutschen nicht nur gute Europäer, sondern auch gute Deutsche.