Vor zehn Jahren starb die Schriftstellerin Gisela Elsner

Einfühlen verboten

Vor zehn Jahren starb die Schriftstellerin Gisela Elsner.

Sentimentalität war ihre Sache nicht. »Kalt«, »frostig«, »böse« lauteten die Begriffe, mit denen man sich behalf, um Gisela Elsners Prosa ein Etikett zu verleihen.

Mit ihren ersten beiden, in den sechziger Jahren erschienenen Slapstick-Romanen erlangte die »höhere Tochter« aus großbürgerlichem Elternhaus frühen Ruhm. Diese Bestandsaufnahmen des autoritär strukturierten und restaurativen Gesellschaftssystems der frühen Bundesrepublik ließen sie für kurze Zeit zu einer Art Lieblingskind des Literaturbetriebs werden. Von einer wohlerzogenen jungen Dame hatte man schließlich keine »hochmoderne« Literatur und erst recht keine bittere Ironie erwartet.

So schreibt sie etwa in »Der Nachwuchs«: »Zwischen diesen einstöckigen, weißen Einfamilienhäusern mit schmiedeeisern vergitterten Fenstern, vor diesen weißen Gartenzäunen mit lattenhohen Ligusterhecken, diesen kreisförmig auf eine grüne, begrenzte Fläche Wasser werfenden Rasensprengern, auf diesen Gehsteigen kann keiner ungestört und unverdächtigt stehenbleiben, es sei denn, er hat einen Hund als Anlass vorzuweisen.«

So konnte man in der Adenauer-Ära seine Umgebung empfinden. Kaum jemand hat das exakter eingefangen als die Autorin Gisela Elsner. Sie stellte die real existierende deutsche Mittelschichts- und Kleinbürgerhölle nach, in der irgendwie jeder ein Blockwart ist; in der jeder nicht erwiderte nachbarschaftliche Gruß als heimliche Kampfansage verstanden wird; in der jeder Zipfel Eigentum entschlossen gegen den Nachbarn verteidigt wird und jede Abweichung von der Norm vom Kollektiv verfolgt wird wie ein Kapitalverbrechen.

Der Ordnungsfetischismus, Sauberkeits- und Kontrollwahn der Nazi-Ära hat sich bekanntermaßen nicht in Luft aufgelöst, als man den Deutschen die Demokratie schenkte. Gisela Elsner hat diese Erkenntnis bereits in den Sechzigern in einer eigentümlichen Literatur verarbeitet. In den siebziger und achtziger Jahren bleibt sie ihrer radikal kritischen Programmatik zwar verpflichtet, doch ihr sprachliches Verfahren ändert sich. Ihre zuvor noch an der experimentellen Avantgarde der frühen sechziger Jahre orientierte Methode weicht einem detailversessenen, sozialkritischen Realismus, der Episoden von grotesker Komik aneinander reiht.

Auch in diesen späteren Romanen dominiert - wenn auch etwas abgemildert - Elsners notorischer Formwille und ihre Vorliebe für teilweise vertrackte und hypotaktische Satzkonstruktionen. Dabei bleibt ihr Thema stets dasselbe: Die Bundesrepublik Deutschland und ihre sonderbaren Bewohner.

Wie zum Beispiel der Dessousfabrikant Mechtel, der sich im Wahlkampf 1976 für die SPD engagiert: »Außerdem steckten in Mechtel, das gestand er sich zu seiner Schande ein, unausrottbar ein paar Vorurteile, die er jedoch keineswegs an die große Glocke hängte. So konnte er beispielsweise nicht umhin, die Türken unappetitlich zu finden und aß, seitdem er erfahren hatte, dass sie hierzulande im Akkord unter anderem Rollmöpse und Heringe einlegten, keine Fischkonserven mehr. Die Wolgadeutschen hingegen taten ihm unsäglich leid.«

Wie hinter der adretten und reinlichen Szenerie aus frisch gedeckten Kaffeetafeln und blankgewienerten Gehsteigen die reine Niedertracht, Dummheit und die mühsam unterdrückte Gewalttätigkeit der postfaschistischen Gesellschaft durchschimmern, das hat außer Elfriede Jelinek keine Autorin so genau beschrieben wie Gisela Elsner.

Das Geheuchelte und Verlogene, die Warenförmigkeit sozialer Beziehungen stellt Elsner an ihrem unangenehmen Romanpersonal immer wieder aus und führt so die trostlose Wirklichkeit des bundesdeutschen Alltags und seiner Protagonisten vor. Wann immer die von ihr porträtierten Spießbürgerinnen und Biedermänner natürlich und ungezwungen wirken wollen, erweisen sie sich als besonders scheinheilig und borniert. Nicht »böse«, wie es immer wieder kolportiert wurde, ist Elsners desillusionierende Prosa, sondern präzise.

»Sie weigert sich, Menschen zu erfinden, wo keine mehr sind«, schreibt Tjark Kunstreich im Nachwort zum soeben wieder aufgelegten Roman »Die Zähmung«. Bei ihren zugerichteten Figuren und in Phrasen redenden Geschöpfen, aus denen nichts spricht außer der Ideologie, die sie verinnerlicht haben, handle es sich um »Monstren«, so hat man der Schriftstellerin wiederholt vorgeworfen. Ganz so, als sei das Obszöne die Literatur selbst und nicht die Gesellschaft, deren Analyse sie betreibt.

Was die Romane von Elsner von ungleich erfolgreicheren Werken der bundesdeutschen Nachkriegsliteratur unterscheidet, ist ihr Verzicht auf Erbauung und Beschaulichkeit zugunsten einer modernisierten, der Entzauberung kapitalistischer Alltagsrealität verpflichteten Ästhetik des Hässlichen. Der Schriftsteller Ronald M. Schernikau notierte: »ich glaube ja nicht an wahrheit, aber was wahrheit ist, merke ich immer, wenn ich böll lese. ich lese gerne böll. alle sind so nett bei ihm (...) man kriegt lust, auf ein dorf zu ziehen. aber böll ist nicht die wahrheit. die wahrheit, das sind elsner und jelinek.«

Mit einer künstlerischen Konzeption jedoch, die im Wesentlichen eine ideologiekritische, »zersetzende« ist, mit der auf die Disharmonie des Sozialen und das beschädigte Leben verwiesen wird, verkauft man irgendwann keine Bücher mehr. Schon gar nicht an ein Lesepublikum, das entweder auf einem »gehobenen Niveau« unterhalten oder von nebulöser Goldrandprosa beraunt werden will.

»Gisela Elsner hat es nicht geschafft, ihre Schreibweise des Negierens, Umsichschlagens stets überraschend umzuformen und in einen förderlichen Ausgleich mit den sich wandelnden Erwartungen zu bringen«, schreibt der Schriftsteller Hermann Kinder. Die Übersetzung dieses Euphemismus kann dann lauten: Gisela Elsner lehnte es ab, ihre Prosa den jeweils herrschenden literarischen Moden oder den Bedürfnissen eines Massenpublikums anzupassen. Weiter heißt es bei Kinder: »Negativität kann (...) bei den Lesenden zur Ermüdung und bei den Schreibenden etwas schneller zum Tode führen.« Am 13. Mai 1992, einige Tage nach ihrem 55. Geburtstag, hat sich Gisela Elsner das Leben genommen.

Der Rowohlt-Verlag, der bis 1987 ihre Bücher verlegt hat, und der deutsche Literaturbetrieb, der seine Preise bevorzugt an Staatsdichter und Sonntagsprediger vergibt, haben sich der unliebsamen und wegen ihres Alkohol- und Tablettenkonsums zur Unperson degradierten Dichterin jedoch schon einige Jahre vor ihrem Tod entledigt. Nicht nur, weil sie sich erlaubte, in den achtziger Jahren noch immer Kommunistin zu sein, sondern auch weil man ihre Literatur für unzeitgemäß hielt.

Allein das sollte hierzulande, wo »das Gedächtnis des Literaturbetriebs bekanntlich ein Sieb ist, in dem nur die Dicksten hängen bleiben« (Hermann Kinder), Beweis genug sein sowohl für die Unversöhnlichkeit als auch für die Absonderlichkeit ihres literarischen Werks.

Gisela Elsners Roman »Die Zähmung« ist soeben im Berliner Verbrecher Verlag wieder aufgelegt worden.