Ist dieses Tagebuch echt?

Absolut, die Aufzeichnungen von Kurt Cobain sind das Authentischste, was man derzeit zu lesen kriegt, meint andreas hartmann

In Nick Hornbys Roman »About a boy«, der um einiges öder ist als die recht gelungene Verfilmung mit Hugh Grant, kommt Kurt Cobain eine Schlüsselfunktion zu. Erst als der von seiner depressiven Mutter mit Naturkost und grobmaschig gestrickten Wollpullis gepeinigte Junge von seinem Mentor, einem thirty-something-Slacker ohne Geldprobleme, darüber informiert wird, wer Kurt Cobain war, bekommt der Junge wegen seines neuen Wissens die Chance, von seiner frisch gebackenen Liebe zumindest nicht mehr völlig verachtet zu werden.

Kurt Cobain rettet also Leben. Kein Wunder, denn er ist ja auch ein Heiliger. Zwar hat der Totenkult um ihn nie derartig hysterische Züge angenommen wie bei anderen Rockheiligen, und der Friedhof, auf dem er begraben liegt, ist nicht einmal halb so gut besucht wie Graceland, doch immerhin ist Kurt Cobain seit seinem Kopfschuss am 5. April 1994 in Seattle der letzte emblematische Rocktote mit Heiligenschein geblieben. Als sich vor einiger Zeit der Sänger von INXS aus dem Leben beförderte, überlegte man kurz, wer INXS überhaupt nochmal waren, und beschloss dann, den Sänger lieber in Frieden ruhen zu lassen.

Um Rock und Tod zum Mythos zu vereinen, braucht es eben andere Voraussetzungen, als die, der Sänger einer mittelmäßigen und mittelmäßig erfolgreichen Band gewesen zu sein. Der tragische Flugzeugabsturz der R&B-Sängerin Aaliyah im vergangenen Jahr bietet gerade noch genügend Stoff für Mythen. Sie war ungeheuer schön, stand in der Blüte ihres Lebens und wurde aus demselben gerissen, man wird sehen, ob hier der James-Dean-Effekt noch zünden wird. Eine Best-of-Aaliyah-Platte wird demnächst erscheinen, und die Stelle für eine Märtyrerin des R&B wäre durchaus noch frei.

Es scheint dagegen so, als wäre nach dem Tod Kurt Cobains die Möglichkeit für eine kultische Einbalsamierung Rocktoter abhanden gekommen. Mit ihm starb der letzte authentische Rocker, der zudem noch, trotz Heroin, mitten im Leben stand. Jugendlichkeit, also nie alt geworden zu sein, ist schließlich eine der Grundvoraussetzungen, um zum Mythos gemacht zu werden.

Gerade in einem Genre, das zur Zeit von Kurt Cobains Tod noch nicht so verseucht war durch die Verehrung von Altherrenrockern mit ersten Kukident-Erfahrungen. Rock war damals noch jung. Nicht zuletzt deswegen, weil Kurt Cobain und Nirvana ihn entscheidend verjüngten, oder besser: vor frühzeitigem Ergrauen bewahrten. Nirvana und Grunge ließen noch ein allerletztes Mal den Traum vom unkorrumpierbaren Rock aufleben, der nach vorne stürmte und sich um keinen Preis der Welt ausverkaufen ließ.

Das Tragische an der Sache war nur, dass genau dieser Traum von MTV und der Plattenindustrie, zu der Nirvana nach einigen Jahren beim späteren Grunge-Riesen Sub Pop gewechselt waren, gnadenlos ausverkauft wurde. Nach der Ausschlachtung Nirvanas als Authentizitätskapelle vor dem Herrn muss man heute niemandem mehr damit kommen, dass Rock irgendwie glaubwürdiger Ausdruck von gelebtem Leben sein könnte.

Diese Leerstelle hat längst HipHop besetzt, ein Genre, das mit dem ermordeten Tupac seinen eigenen Cobain hervorbrachte. Auch wenn Rock derzeit wieder belebt wird und rotzige Garagenbands sich gegenseitig in ihrer Grunge-Attitude zu übertreffen versuchen, bekommt in der Verfilmung von »About a boy« bezeichnenderweise nicht mehr Cobain den Stellvertreterposten für cooles Wissen zugeschustert, sondern HipHop.

All die jungen Bands, die derzeit besonders in der britischen Presse gepusht werden, müssen einen Kampf mit Windmühlen ausfechten. Die Unschuld, die sie alle zu besitzen vorgeben, können sie gar nicht mehr haben. Denn Nirvana haben ihnen die Möglichkeit geraubt, unschuldig zu sein. Deswegen sind Cobains Tagebücher auch ein so harter Stoff, deswegen sollte niemand sie lesen, der auch weiterhin glauben möchte, dass Richtiges im Falschen zu machen ist. Die Tagebücher, aus denen Cobain spricht, machen nochmals klar: Leute, nehmt Abschied von euren Lebenslügen. Ich habe ihnen mein Leben lang nachgehangen, bis ich verstand, dass es einfach nicht funktioniert.

Man liest in diesen Tagebüchern, dass Cobain wirklich daran glaubte, dass er und seine Band die Plattenindustrie entern und ihr die eigenen Regeln aufdrücken könnten. Doch er hatte nicht damit gerechnet, wie biegsam ein System sein kann. Repressive Toleranz, wie es bei Marcuse heißt, ist längst auch bei den Popindustrie-Multis angekommen. Mit der Übernahme von Nirvana haben sie gelernt, dass es sinnvoll sein kann, volle künstlerische Freiheit zu gewähren, und wenn dann eine Band zur »Rage against the machine« aufruft, kassiert man durch die Unterstützung dieser Band kräftig ab.

Cobains Tagebücher sind das rührende Zeugnis eines Menschen, dem man es wirklich abnehmen kann, dass er mit seiner Superstarrolle nie zurecht kam. Einen gültigeren Beweis dafür als eine von eigener Hand abgefeuerte Kugel durch den Kopf kann es ja auch kaum geben. Das, was die vor kurzem erschienene Biografie »Der Himmel über Nirvana – Kurt Cobains Leben und Sterben« von Charles R. Cross einfach nicht zu leisten in der Lage ist – den unmittelbaren Einblick in ein Leben zu gewähren –, das leisten diese Tagebücher. Keine Biografie vermag ähnliche Glaubwürdigkeit zu vermitteln. Bezeichnend ist auch, dass Cross ganz stolz darauf ist, für sein Buch über Cobain einen Einblick in die Tagebücher bekommen zu haben, deren Veröffentlichung wegen eines Rechtsstreits zwischen Cobains Witwe Courtney Love und den ehemaligen Bandmitgliedern Nirvanas längere Zeit in den Sternen stand.

Die Tagebücher sind sogar unmittelbarer, als es eine Autobiografie jemals hätte sein können, denn hier kann nichts mehr geschönt oder nachträglich reflektiert werden. Die deutsche Ausgabe erscheint als Faksimile einzelner Tagebuchseiten, was das Kultische dieser Veröffentlichung nochmals unterstreicht. Die Übersetzung wurde von Clara Drechsler und Harald Hellman vorgenommen, denen in Sachen des übersetzten Popsprech in Deutschland niemand das Wasser reichen kann. Man sieht also: Der Verlag von Kurt Cobain ist das Ganze ziemlich seriös angegangen.

Dass man einzelne Momentaufnahmen aus einem Leben, Notizen, nun als Lebensgeschichte in Buchformat liest, wirkt etwas eigentümlich. Es wird ja keine wirklich zusammenhängende Story erzählt, man kann immer nur erahnen, an welchem Lebensabschnitt wir uns gerade befinden, zumal auf die Angabe eines Datums stets verzichtet wurde. Doch gerade diese Form gibt dem ganzen eine Art experimentellen Charakter, der vielleicht sogar literaturwisenschaftlich etwas hergibt. Cobain verstand sein Schreiben zudem nicht nur als Verfassen eines Tagebuchs, sondern eines Sudelbuchs und Gedankenfriedhofs. Neben Aphorismen und niedergeschriebenen Gedanken gibt es viele Songtexte, Zeichnungen und persönliche Lieblingssong-Hitlisten.

Man blickt tief hinein in das Leben eines Mannes, der sich gegen diese Indiskretion nicht mehr wehren kann. Bizarre Moraldebatten sind darüber entbrannt, ob es denn überhaupt rechtens sei, die Tagebücher zur Veröffentlichung freizugeben, und Courtney Love spielte dabei die Rolle der geldgierigen Witwe, die sich den Leichnam ihres ehemaligen Mannes nachträglich vergolden lassen möchte.

Man muss ihr dankbar dafür sein, dass es dieses Werk nun gibt. Die Tagebücher bieten Einblicke nicht nur in die Seele eines Menschen, wie sie unverfälschter nicht hätten sein können, es wurde auch das Andenken an Kurt Cobain selig gewahrt. Er gibt sein Denken und Fühlen, sein Leben preis, ohne daran auch nur einen Cent zu verdienen. Cool.

Kurt Cobain: Tagebücher 1988–1994. Kiwi, Köln 2002, 315 S., 19,90 Euro

Charles R. Cross: Der Himmel über Nirvana. Kurt Cobains Leben und Sterben. Hannibal, Höfen 2002, 380 S., 25,90 Euro