Wie es aussieht, wenn wir lernen

Eine französische Dokumentation beobachtet eine Schulklasse. Ist das langweilig oder aufregend? von sandra löhr

Das Leben ist ein langer ruhiger Fluss. Zumindest in der Auvergne und in der Schulklasse des strengen, aber liebevollen Monsieur Lopez, der nie seine Stimme gegen seine Schüler erheben muss, eine natürliche Autorität besitzt und sich verständnisvoll um alle kümmert. Zwölf Kinder zwischen sechs und 14 Jahren unterrichtet Georges Lopez im Wechsel der Jahreszeiten. Sie lernen zusammen, spielen miteinander, manchmal machen sie auch Ausflüge. Dazwischen kriecht seelenruhig eine Schildkröte durchs Klassenzimmer, bis im Sommer alle Schüler versetzt werden und sich von ihrem Lehrer mit Küsschen verabschieden.

Doch was sich wie ein halluzinierter Tagtraum gestresster Großstadtlehrer anhört, ist keine Fiktion, sondern Wirklichkeit. Der Dokumentarfilm »Sein und Haben« von Nicolas Philibert erkundet mit einem ethnografischen Blick die wohl wichtigste Zeit der Kindheit, die Schulzeit. Ausgesucht hat er sich dafür eine kleine Schule im dünn besiedelten, ländlich abgeschiedenen Frankreich, in der die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Der Film zeigt die komischen, aus der Distanz zur eigenen Schulzeit manchmal seltsam anmutenden Rituale und Prozesse des Lernens, etwa wie wenig selbstverständlich es ist, das Wort »Mama« von der Tafel abmalen zu können, bis zehn zählen zu können oder ein Ei aufzuschlagen.

Man kann es als mutig bezeichnen, dass die Jury des Europäischen Filmpreises eine Arbeit wie »Sein und Haben« als besten Dokumentarfilm des Jahres 2002 auszeichnete. Denn Nicolas Philibert ist für manche sicher einer der am wenigsten aufregenden Filmemacher der Welt. Einer, der kontemplative, entrückt wirkende Filme über ausgestopfte Tiere im naturhistorischen Museum (»Un animal, des animaux«, 1994) oder über das Erlernen der Gebärdensprache (»Le pays des sourds«, 1992) macht. Einer, der seine Themen eher an den verborgenen Rändern und in den Mechanismen der Gesellschaft sucht, anstatt sich den großen Themen des Lebens zuzuwenden.

Der Gewinner des Europäischen Filmpreises von 2001, Andres Veiels groß angelegter Dokumentarfilm »Black Box BRD«, ist stilistisch und inhaltlich das Gegenteil von Philiberts Film. In Veiels Innenansicht der vergangenen bundesrepublikanischen Wirklichkeit werden zwei unterschiedliche Biografien nebeneinander gestellt, die mit viel Archivmaterial, privaten Super 8-Aufnahmen, inszenierten Passagen und klassischen Interviewszenen nachgezeichnet werden. In Philiberts Filmen findet man nichts davon.

Seine Dokumentationen sind streng beobachtend. In seinem 1990 entstandenen »La Ville Louvre« zeigt er die Arbeitsabläufe und täglichen Handgriffe in den kilometerlangen Archiven und Kellergängen in Frankreichs bekanntestem Museum. Aber nicht das, was der Louvre nach außen repräsentiert, wird gezeigt, sondern das, was ihn im Innersten zusammenhält: das Zusammenspiel und die geheimnisvolle Mechanik der Tausenden von Menschen, die hinter den Kulissen arbeiten, leben und essen.

Mit »Sein und Haben« zeigt Philibert nun in schönster Direct-Cinema-Tradition, wie es ist, wenn man ein Kind ist und lernen muss, und wie es in solch einer Klassengemeinschaft funktioniert. Dabei kann man zwischen den unschuldig wirkenden Kindern schon den ganzen Wust zwischenmenschlicher Verhaltensweisen beobachten: Rivalität, Freundschaft, Ausgrenzung, Solidarität und Selbstbehauptung. Der Film zeigt nicht nur die idyllischen Seiten kindlicher Erziehung – trotz zwischengeschnittener Naturaufnahmen der ländlichen Auvergne, unterlegt mit gefälliger Klaviermusik. In einem Interview sagt Philibert dazu: »Idyllisch? Für mich ist es ein sehr offener Film, der Raum für Interpretationen lässt, vor allem, was die eigenen Kindheitserinnerungen angeht, ich sehe sogar etwas Düsteres, eine latente Gewalt in dem Film, auch wenn sie unterdrückt bleibt. Bevor ich diesen Film drehte, hatte ich wohl vergessen, wie schwer es ist, zu lernen und aufzuwachsen.«

In den Interaktionen zwischen dem Lehrer und den zwölf Kindern ist immer wieder der Prozess der Disziplinierung zu beobachten. Die zwischengeschnittenen Bilder der ungezähmten Natur korrespondieren dabei mit der wilden Natur der Kinder, die lernen müssen, still zu sitzen und sich an bestimmte Regeln zu halten. Stattdessen zappeln sie herum, weinen, streiten sich, nehmen Stifte in den Mund und machen sich dreckig. Als der kleine Jojo ein Bild nicht fertig malt, sondern sich schon längst wieder interessanteren Themen zuwenden will, zwingt Lopez ihn zum Nachsitzen in der Pause. Er sagt, sie hätten doch abgemacht, dass Jojo seine Arbeit erledigt, und man liest in dem erschrockenen Kindergesicht das Unverständnis über einen Lehrer, der auf solchen Abmachungen bestehen kann, obwohl doch die Sonne scheint und die anderen Kinder im Garten spielen.

Die Sanktion wirkt angesichts eines Fünfjährigen gleichzeitig deplatziert und angemessen. Die Schule hat eben die Aufgabe, zu erziehen und auf das erwachsene Erwerbsleben vorzubereiten, in dem es meistens nicht um Lust und Spontanität geht, sondern um Zuverlässigkeit und darum, seine Impulse zu kontrollieren.

Die scheinbare Idylle der Schulzeit bekommt auch an anderen Stellen des Films sichtbare Risse. Auch der Lehrer Lopez hat trotz aller Überlegenheit und stoischer Ruhe nicht immer alles im Griff. Als ein kleines Kind herzzerreißend nach seiner Mutter schreit, nimmt er es erst tröstend in den Arm, kann es aber nicht beruhigen und steht hilflos vor dem schreienden Vierjährigen, bis ein älteres Kind die Sache übernimmt und Lopez sich brüsk und überfordert abwendet. Auch die Eltern des zwölfjährigen Julien sind alles andere als pädagogisch korrekt. Am abendlichen Bauerntisch über die Schularbeiten gebeugt, hagelt es Backpfeifen und dumme Sprüche.

Ist die Schulzeit ein geschützter Raum, in der die Individuen lernen und sich frei entwickeln können? Der Film zeigt immer auch das Gegenteil von dem, was seine Hochglanzbilder sonst behaupten. Er bezieht keine Stellung, sondern widmet sich ganz der vorgefundenen Situation. Und vielleicht ist das eine der größten Qualitäten Philiberts, dass er einen fast objektiven Ausschnitt der Wirklichkeit liefert, ohne die Deutungshoheit zu beanspruchen. Manche nennen das langweilig. Für andere ist es die hohe, reine Kunst des Dokumentarfilms.

Sein und Haben (Être et avoir), F 2002. Regie: Nicolas Philibert. Start: 16. Januar