Lernt vom Papst!

Der letzte linke Student XXIV

Heute liest der letzte linke Student in der Zeitung. Und: er liest gewiss gern in der Zeitung. Doch diesmal: konzentriert er sich gar nicht auf die Zeitung. Denn: er muss auf einmal an Stalin denken. Das hat wiederum einen Grund. Bekanntermaßen hatte Stalin die Massen hinter sich. Das war gut. Und gut war es, weil so die Massen gesammelt waren. Und eine gesammelte Masse: ist eine zwingende Vorraussetzung für eine gelungene Revolution. Allerdings: der letzte linke Student denkt selbstverständlich kritisch an Stalin. Weil: im Stalinismus sind unsagbar viele Verbrechen im Namen des Kommunismus geschehen. Und noch dazu: im Namen der Sowjetbevölkerung. Und das ist: alles andere als: ersprießlich. Einwand: da ist dann wieder die unter Stalin vorangehende Industrialisierung. Denn die: hat auch irgendwie dem Kommunismus genützt. Dennoch: Verbrechen bleiben schlimm.

So denkt der letzte linke Student. Und hält dabei die Zeitung in Händen. Und liest nicht. Eben noch hat er: einen großen Artikel über den Kirchentag gelesen. Der: war der Anstoß von allem. Denn: auch auf dem Kirchentag waren Massen versammelt. Auch dort wurde: heftig diskutiert. Und es wurden dort: Weichen gestellt. Selbstredend denkt der letzte linke Student ziemlich kritisch an den Papst. Der Papst ist nämlich autoritär. Und hat den Kirchentag beschränkt. Überhaupt: der letzte linke Student denkt eigentlich an alle Religionen kritisch! Weil: Religionen Opium für das Volk sind. Sagt Marx. Mit Recht. Das meint: Religionen verwirren das Menschengeschlecht und verhindern die Aufklärung!

Allerdings: stimmt es, dass die Religionen die Massen mobilisieren. Und ganz besonders mobilisiert: der Papst. Außerdem hat der: die meisten Massen hinter sich. Daher muss der letzte linke Student nun an Stalin denken. Stalin mobilisierte die Massen genauso. Vielleicht sogar: so viele Massen wie der Papst. Das einerseits. Andererseits: die Gewerkschaften mobilisieren nicht immer gut. Und Massen schon gleich gar nicht. Weil sie: zahm sind. Ohne Durchgriff. Bzw.: Faust. Für: auf den Tisch! Und überhaupt gilt: die Linke mobilisiert nicht gut. Der Papst aber, oder Stalin, die kriegen Massen hinter sich. Und das auch noch: locker.

Das erkennt der letzte linke Student. Selbst: wenn es mühevoll ist. Vor allem aber: er kommt zu einer Lösung. Schnell schreibt er ins goldene Notizbuch: »Vielleicht braucht die Linke heute einen charismatischen Führer. Der würde durchgreifen und Dinge anschieben. Eine solche Gestalt könnte die Linke an die Spitze führen.« So ist’s. Und wahr ist´s auch. Dieses Diktum hat alles, was ein Diktum braucht: Verve, Anspruch und Hoffnung. Schrift kann so ermutigend wirken. Und sollte das auch. Plötzlich jedoch: erschrickt der letzte linke Student. »Führer«, das hat er geschrieben. Aber: das kann man heute nicht mehr so schreiben. Gerade in Deutschland nicht. Da sieht man mal wieder: man kann nicht genug aufpassen. Also killert der letzte linke Student den »Führer« weg. Und schreibt »Lenker« hin. Das ist noch nicht verboten. Viel schlauer klingt’s außerdem. Weil: es eine Metapher ist. Und auch wir greifen zum Expander, weil bald kraftvoll zugepackt wird.

jörg sundermeier