Alle mal herhören!

Mein Leben mit Stuckrad-Barre

Letzte Durchsage: Joachim Lottmann erklärt die Popliteratur

Es war wohl fast fünf Jahre her, noch tief im letzten Jahrhundert, als ich in einem heruntergekommenen Eimsbütteler Lokal – ich glaube, es hieß »Beach Star« – die wohl klügste Frau ihrer Epoche, die Foucault-Expertin Nicola Reidenbach, traf, um ihr meine Verlobte vorzustellen. Das Gespräch raste auf hohem Niveau dahin, man verstand sich »blendend«, schließlich war auch die Verlobte, Chefin des Literaturhauses Hamburg, nicht blöd. Doch dann kam die Rede auf Stuckrad-Barre. Die Ablehnung dieses Autors durch die beiden female intellectuals übertraf alle Brandreden der Menschheitsgeschichte. Selbst ein Ajatollah Khomeini hätte einen Salman Rushdie nicht so hassen können wie diese Ikonen der Frauenkultur den kleinen Popautor. Das Dumme war nur: Alle ihre Argumente hatte ich schon gehört. Eitelkeit, Narzissmus, der hat kein Thema, der kann nicht schreiben, der kann nicht lieben, der ist ein kleines Arschloch, der soll erstmal richtig arbeiten, der verhöhnt die kleinen Leute, der schreibt nur ab, der schreibt nur, was alle schreiben, der ist totaler Mainstream, der sieht scheiße aus und so weiter. Das alles hatte ich schon mehrmals gehört – von den beiden Damen selbst. Ich rief also aus: »Wie oft haben wir bereits über Stucki gestritten! Eure Wut muss sich doch allmählich gelegt haben!« Sie sahen mich zwei Sekunden lang erregt an, der Schaum tropfte von ihren Lippen. Dann machten sie weiter. Sie höhnten, kreischten und berserkerten, dass sich die Tische bogen, und noch von draußen hörte ich ihre sich gegenseitig anfeuernden Injurien gegen den Mann.

Das ist heute, ein halbes Jahrzehnt danach, nicht anders. Wir haben die Vereinbarung, das Thema zu meiden, aber irgendwann zu später Partystunde kommt es doch immer auf. Und zwar auch auf Parties, wo die beiden Hyänen gar nicht erscheinen. Kurz gesagt: auf allen Parties. Irgendwann kommt immer die Stuckrad-Stunde, meistens in der Küche um halb drei Uhr nachts, wo sich der Rest der Gäste schmatzend und gut gelaunt eingefunden hat. Und alle vertreten dieselbe Meinung. Alle kotzen sich aus, übergangslos, auf Knopfdruck, als hätten sie seit Stunden darauf gewartet. Dieser Mistkerl, dieses Brechmittel, dieser Hochstapler, der kann nichts, der kommt mir schon aus den Ohren raus, das ist keine Literatur, der glaubt wohl nur, weil er gut aussieht, sei er schon wer, der ist doch nur mit Anke Engelke zusammen, was die an dem findet, möchte ich mal wissen, dieser Pisser, dieser Idiot, wo ist denn da eigentlich die Lebensleistung, für mich hat der keine Existenzberechtigung, der kennt die normalen Menschen doch gar nicht, der ist doch nur angesagt, weil alle denken, er sei angesagt, der ist nur ein Produkt der Medien, der kriegt nie den Literaturnobelpreis, der sieht scheiße aus und so weiter. Man hat das Gefühl: Wäre der schmächtige kleine Gescholtene zufällig unter den Gästen, würden sie ihn johlend hochzerren und ohne Umwege am Fensterkreuz aufhängen. Sie würden nicht eine Sekunde zögern.

Ich habe mich immer gefragt, warum das so ist. Warum wird Benjamin von Stuckrad-Barre so gehasst? Warum erkennt man nicht, dass »Soloalbum« einer der zehn besten Romane der Bundesrepublik ist? Sein Ritt durch die Medien war gut durchdacht und genau so, wie ich es mir von einem politisch bewussten Menschen, ja, einem Marxisten immer gewünscht hatte. Er war nicht ein Opfer der Medien, also der Umstände, des Systems, des Kapitalismus et cetera, sondern ein Benutzer und bewusstseinsstiftender Entlarver desselben. Wo er hinkam, kannte er die ungeschriebenen Gesetze und setzte sie gnadenlos um. Woher er sie kannte? Durchs Hinschauen! Der Mann hat eben mit seinem Fernseher wirklich gearbeitet, anstatt sich berieseln zu lassen. Seine Mittel: Übertreibung, Beschleunigung, Ästhetisierung. Seine Lehrer: Schlingensief, Harald Schmidt, J.D. Salinger. Natürlich auch Kracht und Lottmann. Sein Busenfreund Rainald (»Irre«) hat ihn dagegen ästhetisch eher behindert. »Soloalbum« ist das eine und einzige Buch, das jeder Mensch schreiben kann und meiner Ansicht nach auch sollte (nach Baum pflanzen und Kind kriegen). Jeder trägt eben ein gutes Buch in sich. Danach erst beginnen die Second-Order-Erfahrungen, das Ausgedachte, die Literatur, also der Krampf.

Benjamin wusste das und hielt sich daran. Er wusste: Einen weiteren Roman wird es nicht geben, allenfalls Bluff. Also ging er mit »Soloalbum« auf eine deutschlandweite Lesereise und schrieb darüber sein nächstes Buch: »Livealbum«. Danach hatte er den Status, um in jeder Zeitschrift schreiben zu dürfen. Er testete den Printbereich komplett durch und veröffentlichte seine Erfahrungen darin in dem dritten Buch »Remix«. Jeder Leser kann seine Erkenntnisreise für wenig Geld nachvollziehen und mit ihm profitieren: Medien, was ist das, wie geht das, tut das weh, was geschieht da? Medien, für oder gegen die Arbeiterklasse? Wer schafft an, wer blutet, wer wird betrogen? Als nächstes warf er sich auf die Musiksender Viva und MTV. Nicht, weil er diesen Teil der Medien auch noch im Selbstversuch durchleuchten und analysieren wollte. Das auch. Aber vor allem, weil dort und nur dort seine sexuellen Bedürfnisse zu stillen waren. Hätte Nora Tschirner die Tagesthemen moderiert, wäre er dorthin gegangen. Sogar wenn er dann Angela Merkel hätte interviewen müssen. Aber Tschirner war bei MTV. Und so machte er da eine Show, die noch rasanter war als Schlingensiefs 3 000er Sendung an gleicher Stelle. Schon auf seiner legendären Lesereise hatte er vorgemacht, wie man eine Auftrittsform in die Luft sprengt. Seine eigenen Texte las er valentinesk und total gaga vor, als hätte ihn der Stechapfel gestochen. Er brüllte auf der Bühne, als wolle er Hartmann den Job beim Schauspielhaus abluchsen. Sah er hübsche Mädchen in der ersten Reihe, fegte er die Manuskripte vom Tisch und unterhielt sich nur mit ihnen. Ältliche Buchhändlerinnen ließ er vom Saaldienst abführen, wegen angeblichem Bombenalarm. Und so fort. Nie ließ er es zu, eine Sache zweimal zu machen. Deswegen stellte er Silvester 2001 alle Lesungen ein und ward nicht mehr gesehen. Nur am 19. Juli wird er in der »letzten langen Nacht der Popliteratur« auf die Rampe steigen, aber nur um einer Kunstform Ade zu sagen, die er für sich nur sehr kurz und konsequent benutzt hatte.

Die Frage, warum Stuckrad so gehasst wird, ist damit noch immer nicht beantwortet. Verzeiht man ihm nicht, die Britpop-Band Oasis obsessiv verehrt und zum heimlichen Thema von »Soloalbum« gemacht zu haben? Ich verstand das sehr gut, erinnerte es mich doch an meine Bret-Easton-Ellis-Verehrung in »Deutsche Einheit«. Es gibt Obsessionen dieser Art, und sie kommen in der Literatur viel zu kurz. Zudem mag ich Oasis. Aber als Intellektueller hatte er damit natürlich ausgespielt, Spex kündigte ihm das Abo und so weiter. Doch der Stuckrad-Hass hat andere Gründe. Sein Privatleben? Vier Gruppen von Menschen umgeben ihn: Die Leser, die ihn natürlich lieben und kaufen, ungefähr 100 000 Leute. Die so genannte »Szene«, die ihn, wie beschrieben, hasst und lynchen möchte, circa zwei Millionen Leute. Die Pop-Autoren, die ihn durch die Bank innigst mögen und verdammt gut leiden können, das ist eine einstellige Zahl von Leuten. Und schließlich ich, der Autor dieser didaktischen Abhandlung: Natürlich verehre ich ihn.

Er fiel mir 1997 auf, lange vor seinem Romandebüt, als er recht scharfsinnig über Alexa Hennig von Lange schrieb. Ich nahm sofort Kontakt auf, wir trafen uns. Eine Freundschaft entwickelte sich, wir gingen gern spazieren, am liebsten die Biller-Route Hofgarten, Leopoldstraße, Hohenzollernstraße, Habsburgerstraße. Er war knapp über 20 Jahre alt, hätte fast mein Sohn sein können und war entsprechend klüger und schneller als ich. Ich bekam immer schon nach 25 Minuten Kopfschmerzen, weil mich das schnelle Sprechen extrem anstrengte. Die Erfahrung, so schnell denken und reagieren zu müssen, hatte ich nie vorher gemacht. Das war wirklich ein heller Geist, zu hell sogar, ich machte mir Sorgen. So einer, dachte ich, stirbt früh. Damals wusste ich noch nicht, dass er alles richtig machen würde in den folgenden Jahren. Dass er nicht verbrennen würde in den Medien, sondern den Strahl umkehrte. Auch hatte er damals Pech bei den Mädchen. Ich vermutete damals, das würde so bleiben. Zumal sich das Pech während der Anke-Zeit zu lebensbedrohlicher Verzweiflung steigerte. Ich machte mir Ende der Neunziger wirklich große Sorgen. In aufrüttelnden Faxen beschwor ich ihn, sich nicht das Leben zu nehmen. Er zweifelte erstmals fast an sich selbst. Helge Malchow hatte ihm »Mai, Juni, Juli« zugesteckt, und Benjamin bekannte plötzlich, er hätte »Soloalbum« niemals schreiben können, wenn er das Buch zufällig vorher schon gelesen hätte. Dann hätte er sich nach dem Drittstudium vom sagenhaften Reichtum seiner Vorfahren, der von Stuckrads und von Barres, ernähren müssen und wäre nutzlos gestorben. Einmal rief ich ihn Mitte 1999 an und hatte Anke am Apparat. Zu meiner freudigen Überraschung plapperte sie in derselben halsbrecherisch schnellen Diktion wie Freund Stuckrad, unzähmbar, glutvoll, über Stock und Stein, von unbeschreiblicher Komik dabei und nicht endend und nicht beeinflussbar: irre! Ich dachte, dass sich da zwei gefunden hatten, die eine Liebe vom anderen Stern zelebrierten und freute mich für Stucki. Ich habe mir nie wieder Sorgen um ihn gemacht, obwohl ich mitbekam, dass er Anke erst nach Jahren ganz und gar erobern und bezwingen konnte. Er hat es getan, er hat es geschafft, und als ich zuletzt heimlich in der Bild las, »Deutschlands großer Dichter von Stuckrad-Barre« habe Anke Engelke »aus seinem Leben geworfen«, konnte ich das so deuten: Das Problem ist bewältigt, und zwar positiv.

Was ist heute mit ihm, am Vorabend der Abschiedsgala? Was macht er noch in Zürich, was wurde aus der Anke-Nachfolgerin, die ihn verließ, und warum floppte der Film? Zunächst zu letzterem: Natürlich wusste Stuckrad, was deutsche Filmer aus einem Stoff wie »Soloalbum« machen würden, nämlich eine Teenie-Komödie, sozusagen »Eis am Stiel, Teil 14«, mit dem Höhepunkt, dass der Held sich den Schwanz im Autofenster einklemmt. Sie würden aus Gold Scheiße machen, das war ihm vorher klar. Aber er wusste auch: Er konnte in seinem Leben nur diesen einen großen Kinofilm machen, weil er nur diesen einen großen Roman hatte schreiben können. Und so machte er es. Weil er auch dieses Medium testen wollte. Weil sein Erkenntnisinteresse größer war als sein Stolz. Weil Weisheit ihm wichtiger war als Ehre.

Er will so viel wissen wie möglich. Dafür bleibt er gern der Stachel im Fleisch des deutschen Kulturkörpers. Denn das ist ohnehin die Funktion der Popliteratur gewesen.

Am 19. Juli tritt Benjamin von Stuckrad-Barre (27) letztmalig auf: anläßlich der »letzten langen Nacht der Popliteratur« mit Joachim Lottmann, Sven Lager, Wolfgang Herrndorf und Feridun Zaimoglu. Ab 20 Uhr im »Kurvenstar«, Berlin.