Kein Tag für die Familie

Nach zwei erfolglosen Sfor-Aktionen glaubt in Bosnien kaum noch jemand daran, dass Radovan Karadzic und Ratko Mladic jemals verhaftet werden. von markus bickel, sarajevo

Mangelnde Höflichkeit kann man Dale MacEachern wirklich nicht vorwerfen. »Sfor entschuldigt sich für alle Unannehmlichkeiten, die den rechtschaffenen Bürgern Bosnien-Herzegowinas durch diese Operationen entstehen könnten«, erklärte der Sprecher der von der Nato geführten Bosnien-Schutztruppe (Sfor) am Dienstag voriger Woche. US-amerikanische, italienische und französische Soldaten hatten kurz zuvor das Haus von Radovan Karadzics Tochter Sonja in dessen früherem Amtssitz in Pale umstellt. Weitere Einheiten blockierten Straßenkreuzungen und die Praxis von Liljana Zelen-Karadzic, der Frau des vom Uno-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit Angeklagten. Am Abend verließen sie den luftigen Bergort rund 15 Kilometer südöstlich der bosnischen Hauptstadt Sarajevo wieder, ohne auch nur eine Spur des seit mehr als fünf Jahren untergetauchten Mannes zu finden. Am Mittwoch dann das gleiche Schauspiel: Ein Tag voller Straßensperren und Videoüberwachung. Aber alles ohne sichtlichen Erfolg.

Was nicht überrascht, denn selbst wenn der ehemalige Präsident der kurz vor Kriegsbeginn 1992 gegründeten bosnisch-serbischen Republika Srpska seine Familie in Pale immer wieder mit Kurzbesuchen beglückt, ist es eher unwahrscheinlich, dass er sich ausgerechnet vorige Woche dort hat blicken lassen. Schließlich markierte der Tag, an dem die Sfor ihre Straßensperren in und rund um Pale einrichtete, den Beginn der Operation »Dynamic Response«. Im Kosovo und in Bosnien sind bis Ende September mehr als 3 000 zusätzliche Nato-Kräfte eingesetzt, um, wie es in der Ankündigung heißt, »die Einheiten mit Terrain und Umgebung vertraut zu machen«. Ein schlechter Zeitpunkt also für Familienbesuche.

Es scheint fast so, als ob die ganze Aktion nur durchgeführt wurde, um den Ärger vieler Bosnier über die hohlen Worte von der Entschlossenheit der Sfor-Führung, den seit der Auslieferung des jugoslawischen Ex-Präsidenten Slobodan Milosevic im Juni 2001 meistgesuchten Kriegsverbrecher nach Den Haag zu bringen, zu zerstreuen. Bereits zwei Wochen zuvor war in einem Vorort von Sarajevo eine weitere, von der Sfor später als Festnahmeversuch deklarierte Aktion durchgeführt worden. Der vermeintliche Schlag richtete sich gegen Karadzics General Ratko Mladic, dem die Uno-Chefanklägerin Carla del Ponte die Verantwortung für den Mord an bis zu 8 000 muslimischen Jugendlichen und Männern in der ostbosnischen Enklave Srebrenica im Juli 1995 zur Last legt.

Glaubt man den Informationen, die Diplomaten und Militärs in Sarajevo streuen, handelte es sich bei dem Einsatz fast schon um eine Einladung zum Zugreifen. Denn von Butmir am Stadtrand von Sarajevo, wo das Sfor-Hauptquartier liegt, bis nach Kasindo, dem Wohnort von Mladics Mutter Stana, sind es nicht einmal zwei Kilometer. Doch als italienische Carabinieri dort eintrafen, war Mladic schon wieder verschwunden. Seine Mutter war am Abend zuvor verstorben, und die bewaffneten Einheiten versuchten ihren kläglichen Zugriff am Tag der Beerdigung.

Dass ausgerechnet italienische Carabinieri an der Operation beteiligt waren – mit ihren gefederten Tirolerhüten sorgen die Truppen in der Fußgängerzone von Sarajevo immer wieder für Heiterkeit –, ist sicherlich nicht der einzige Hinweis darauf, dass es der nach Kriegsende 1995 nach Bosnien entsandten internationalen Streitmacht mehr um eine Propagandaaktion als um einen tatsächlichen Erfolg gegangen war. Grund genug für Sfor-Sprecher MacEachern, sich tags darauf bei den Angehörigen des von del Ponte eigentlich in Serbien oder Montenegro vermuteten früheren Generals mit bereits bekannter Höflichkeit zu entschuldigen. »Sfor drückt der Familie, die bei der Operation hervorragend kooperiert hat, ihr Beileid aus.«

Über ähnlich fürsorgliche Behandlung würde sich manch einer der Angehörigen der Opfer des Massakers von Srebrenica im Jahr 1995 sicherlich ebenfalls freuen. Schließlich haben allein in diesem Jahr zwei bosnisch-serbische Offiziere vor dem Uno-Kriegsverbrechertribunal ihre Mitschuld an dem größten Massaker in Europa seit Ende des Zweiten Weltkrieges eingeräumt. Nur noch die extreme Rechte in der Republika Srspka lehnt die Verantwortung für den Massenmord ab und verweist darauf, dass bislang erst etwas mehr als 2 000 Opfer identifiziert werden konnten. Das ist allerdings nicht verwunderlich, da die bosnisch-serbische Führung nach Unterzeichnung des Dayton-Vertrages unzählige Leichen in so genannte »Secondary Graves« umbetten ließ, um sich vor Entdeckung zu schützen. Nun müssen viele in Dutzenden Gräbern verteilte Überreste mühsam wieder zusammengesetzt werden. In den Laboren des Institute for Missing Persons in Tuzla und Visoko liegen Knochen- und Gewebereste 4 000 weiterer Toter zur mühsamen DNA-Identifizierung bereit. Und dieser Prozess wird Jahre dauern.

Ein Grund für die westliche Zurückhaltung könnte sein, dass Karadzic und Mladic mehr wissen, als manchem Politiker in Großbritannien, Frankreich oder den USA lieb ist. So ist bis heute ungeklärt, weshalb Nato und UN nicht eingriffen, als das Massaker in der ostbosnischen Uno-Schutzzone Srebrenica bereits in Gang war und zumindest US-amerikanische Geheimdienst längst darüber Bescheid wussten. Gerüchte, Mladic habe mit dem damaligen Uno-General Philippe Morillon einen Deal geschlossen, der die kampflose Übergabe Srebrenicas im Tausch für die Freilassung von mehreren Dutzend als Geiseln gehaltenen Uno-Blauhelmsoldaten vorsah, halten sich bis heute.

Zweifel an der Entschlossenheit, Karadzic und Mladic wirklich zu fassen, sind so alt wie die Geschichte der Sfor selbst. So konnten die beiden in den ersten Jahren nach Unterzeichnung des Dayton-Friedensvertrages regelmäßig Kontrollpunkte passieren, ohne dass die Peacekeeper zugriffen. Später scheiterten dann mindestens zwei Versuche zur Festnahme Karadzics am Mitteilungsbedürfnis französischer Sfor-Offiziere, die dessen Hintermänner vorher informierten.

Zwar wurden seit der ersten Festnahme eines mutmaßlichen bosnisch-serbischen Kriegsverbrechers im Sommer 1997 inzwischen fast 30 Verdächtige nach Den Haag überstellt. Sieht man aber einmal vom ehemaligen Parlamentspräsidenten der Republika Srpska, Momcilo Krajisnik, ab, war noch kein wichtiger politischer Verantwortlicher darunter. Biljana Plavsic, die 1997 mit westlicher Unterstützung zur bosnisch-serbischen Präsidentin gekürt wurde, stellte sich voriges Jahr selbst und wurde im Frühjahr zu elf Jahren Haft verurteilt.