Das Kreuz des Ostens

Mit Sonderwirtschaftszonen sollen die neuen Bundesländer saniert werden. Die Idee stammt aus China. von anton landgraf

Für historische Offenbarungen ist der nüchterne Hanseat kaum bekannt, auch tief schürfende Prophezeiungen sind seine Sache nicht. Dennoch schien Regierungsberater Klaus von Dohnanyi vergangene Woche von einer österlichen Passion erfasst worden zu sein. Die Bewältigung des »Aufbau Ost« sei eine »nationale Frage erster Ordnung«, verkündete er bedeutungsvoll und warnte, dass »die alten Länder ausbluten könnten, wenn die Wunde Ost nicht geschlossen wird«.

Der ehemalige Hamburger Bürgermeister und Bundesbildungsminister leitet eine Regierungskommission, die vor einigen Monaten von Verkehrsminister Manfred Stolpe berufen wurde. Die Expertenrunde mit Vertretern aus »Wirtschaft, Politik und Kultur« sollte eine Bilanz der bisherigen Ostförderung erstellen und vor allem erklären, was mit den 1 250 Milliarden Euro geschehen ist, die in den letzten 14 Jahren in die neuen Bundesländer flossen.

Anfang April stellte Dohnanyi seinen Bericht vor und offenbarte, dass der Aufbau Ost weitgehend gescheitert ist. An den strukturellen Problemen Ostdeutschlands habe die gewaltige Summe kaum etwas geändert, das meiste Geld sei in Sozialtransfers »versickert« oder nach dem Gießkannenprinzip ohne nachhaltigen Effekt vergeudet worden. Von einer selbsttragenden Wirtschaftsstruktur und »produktiver Wertschöpfung« sei nicht viel zu sehen. Und, schlimmer noch, die jahrelangen Milliardensubventionen drohen nun auch noch den Westen mit in die Tiefe zu ziehen.

Um dem nationalen Leid ein Ende zu setzen, verlangt Dohnanyi eine drastische Umkehr bei der bisherigen Vergabepraxis. Notwendig sei die Einrichtung von weitgehend deregulierten »Sonderwirtschaftszonen« im Osten. Die staatlichen Mittel sollten auf prosperierende Gegenden wie Leipzig und Dresden konzentriert, die schwächeren Regionen hingegen sich selbst überlassen werden.

Die Regierungskommission habe »interessante Einzelvorschläge« genannt, erklärte daraufhin ein Sprecher aus Stolpes Amt. Auch der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Wolfgang Böhmer, unterstützt den Vorschlag einer »Sonderwirtschaftszone Ost«, und sogar PDS-Politiker finden Gefallen an dem Projekt. Der Schritt sei »unausweichlich«, meinte am Dienstag vergangener Woche Mecklenburg-Vorpommerns Arbeitsminister Helmut Holter.

Der thüringische Ministerpräsident lehnte den Vorschlag hingegen ebenso ab wie SPD-Generalsekretär Klaus Uwe Benneter, der vor »Schnellschüssen« warnte. Fraglich ist vor allem, ob die Europäische Kommission einen solchen Plan überhaupt genehmigen würde. Und schließlich drohten auch noch die Gewerkschaften mit einer Verfassungsklage.

Dennoch will Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) in diesem Jahr einen Gesetzesentwurf vorlegen, wonach in besonderen Regionen Bundes- und Landesrecht ausgesetzt werden könnte. In Zusammenarbeit mit der Bertelsmann-Stiftung soll im Kreis Ostwestfalen-Lippe, in Bremen und Schwerin getestet werden, welche rechtlichen Bestimmungen zeitweise fallen könnten.

»Das wäre ein Einstieg in die Reformen, die wir flächendeckend brauchen«, freute sich Martin Wansleben, Geschäftsführer der Deutschen Industrie- und Handelskammer, im Berliner Tagesspiegel und forderte, vor allem in den Grenzregionen die Arbeitnehmerrechte »bedarfsgerecht« auszusetzen. Dann würden die Unternehmer auch nicht gleich nach Osteuropa auswandern.

Für den Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) jedoch kommt »der Vorschlag 14 Jahre zu spät«. Heute sei es leider nicht mehr möglich, die Lohnkosten dem polnischen oder tschechischen Niveau anzupassen, klagte BDI-Sprecher Hans Joachim Haß in der gleichen Zeitung.

Über die Einführung von Sonderwirtschaftszonen wurde bereits Anfang der neunziger Jahre diskutiert, die Idee aber wegen der schwierigen Umsetzung bald wieder verworfen. In diesen Zonen können Unternehmen besondere staatliche Vergünstigungen erhalten. Steuer- und Zollabgaben werden drastisch reduziert oder gleich ganz aufgehoben, das Arbeitsrecht, inklusive Tarifbindungen und Kündigungsschutz, wird eingeschränkt.

In Polen entstand in den letzten Jahren ein Dutzend solcher Inseln, nachdem die Regierung in Warschau 1994 ein »Gesetz über ökonomische Sonderzonen« verabschiedet hatte. In den ausgewiesenen Regionen in der Nähe von Gliwice und Katowice müssen beispielsweise ausländische Firmen wie Opel keine Einkommenssteuer mehr zahlen.

Eine gewisse Ironie liegt darin, dass der aktuelle Vorschlag, wie man das Erbe des ostdeutschen Realsozialismus sanieren könnte, ausgerechnet aus einer sozialistischen Volksrepublik stammt. Die chinesische Regierung schuf bereits 1980 in der Nähe von Shanghai für ausländische Investoren so genannte geöffnete Gebiete. Wenig später versuchte Mexiko im Grenzgebiet zu den USA seine Exportwirtschaft mit Hilfe dieses Modells anzukurbeln. Ende der neunziger Jahre lockte die russische Regierung mit Sonderzonen bei Sankt Petersburg und in Kaliningrad. Dort montiert seitdem der deutsche Autohersteller BMW seine Fahrzeuge für den russischen Markt. Im September 2002 genehmigte sogar die nordkoreanische Regierung eine kapitalistische Enklave an der Grenze zu China, die Investoren in das Land bringen soll.

Ob das chinesische Modell für Brandenburg oder Sachsen eine Perspektive bietet, ist jedoch mehr als zweifelhaft. Von einer baldigen Angleichung der Lebensverhältnisse, wie sie 1998 Bundeskanzler Gerhard Schröder bei seinem Regierungsantritt noch in Aussicht stellte, ist heute kaum mehr die Rede. Die Arbeitslosigkeit beträgt im Osten durchschnittlich 20 Prozent und liegt damit, gemeinsam mit Regionen wie dem italienischen Mezzogiorno oder dem portugiesischen Alentejo, an der Spitze bei den alten EU-Mitgliedsstaaten. Nach Angaben des EU-Statistikamtes hat Halle in Sachsen-Anhalt mit 27 Prozent sogar die höchste Arbeitslosenrate Europas.

Jedes Jahr verlassen etwa 200 000 Menschen, überwiegend junge und gut ausgebildete, den Osten. Städte wie Magdeburg oder Cottbus verloren ein Fünftel der Einwohner. Hoyerswerda, einst die »jüngste Stadt« der DDR, werde in etwa zehn Jahren zur Hälfte von Pensionären bewohnt sein, schreibt die Sozialwissenschaftlerin Christine Hannemann von der Humboldt-Universität in Berlin in ihrem Aufsatz »Labor Ostdeutschland«. Die Stadt werde dann zu einem Rentnerparadies »mit der Friedhofsgärtnerei als letztem Arbeitgeber mit garantierter Expansionsaussicht«.

Daran werden auch mögliche Sonderwirtschaftszonen kaum schnell etwas ändern. Das meint jedenfalls der brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck. »Der Osten ist doch längst eine deregulierte Zone«, kommentierte er die Pläne der Expertenkommission und verwies auf andere Gründe für die Misere. Der Westen habe die neuen Länder zwar »als Konsumenten willkommen geheißen, uns aber als Produzenten nicht gebraucht«.

Tatsächlich reichte nach der Wende die industrielle Produktivität im Westen aus, um die Nachfrage aus den neuen Ländern zu bedienen. Als in den neunziger Jahren zudem die osteuropäischen Exportmärkte wegfielen, erlebte die ehemalige DDR eine fast komplette Deindustrialisierung. Mittlerweile haben sich die neuen EU-Beitrittsländer selbst zu weltmarktfähigen Konkurrenten entwickelt.

Platzeck sprach sich vergangenen Woche dennoch dafür aus, einzelne »Leuchttürme« in Ostdeutschland zu fördern. Eine andere Hoffnung hat auch er nicht. Deren wirtschaftlicher Aufschwung könnte dann die restlichen Landesteile mitziehen. Irgendwann einmal. Vielleicht.