Shock and Awe

Liberale Kräfte werden es im Irak in Zukunft noch schwerer haben. von alfred hackensberger, beirut

Die Zigarette frech im Mundwinkel, posierte die US-Soldatin Lynndie England vor geschundenen irakischen Gefangenen für die Kameras ihrer Kollegen. Das »Siegerfoto« von Lynndie England aber ist nur eines von vielen Fotos aus dem Bagdader Gefängnis Abu Ghraib, die GIs zum Spaß gemacht und angeblich sogar untereinander ausgetauscht sowie auf CDs gebrannt haben sollen.

»Absolut widerwärtig«, meinte Steve Hareiki, ein Professor an der Amerikanischen Universität in Beirut. Für ihn, der jahrelang in Stanford, Kalifornien, gelehrt hatte, ein moralisches Desaster für die USA und völlig unverständlich. »Sie wollen Demokratie und Freiheit in den Mittleren Osten bringen – und dann so etwas.«

»Dieser Skandal«, so hieß es in der libanesischen Tageszeitung As-Safir, »zeigt den Arabern ohne jeden Zweifel, dass es Washington nicht um ihre Herzen und ihren Verstand geht.« In Kairo publizierte das Oppositionsblatt Al Wafd auf seiner Titelseite vier große Fotos von irakischen Frauen, die von US-Soldaten vergewaltigt worden sein sollen. Dazu die Überschrift: »Die Demokratie vom amerikanischen Empire des Teufels und der Prostitution.«

Die ägyptische Menschenrechtsorganisation EOHR forderte ein internationales Tribunal, das die Verantwortlichen zur Rechenschaft zieht. »Diese Vorfälle sind ein Schock für Menschenrechtsaktivisten«, erklärte ihr Generalsekretär, weil man doch geglaubt habe, »dass sich Folter auf die Dritte Welt beschränkt.« Der sudanesische Außenminister sprach von »tiefer Trauer«, und die Tageszeitung Al-Khaleej aus den Vereinigten Arabischen Emiraten nannte die Misshandlungen »einen Ausdruck der Arroganz der amerikanischen Okkupationsarmee«.

Zusätzlich ist in der letzten Woche bekannt geworden, dass die US-Behörden fast seit einem halben Jahr von den Misshandlungen gewusst haben müssen. Im Januar wurde bereits ein Verfahren gegen Lynndie England eingeleitet, und im Februar lag ein Bericht von Generalmajor Antonio Taguba vor, der »eklatante sadistische sexuelle Misshandlungen« in Abu Ghraib festgestellt hatte. Doch erst der US-Sender CBS machte den Skandal publik, als er die ersten Fotos veröffentlichte. Warum haben die USA so lange gewartet, wenn es ihnen um Freiheit und Menschenrechte geht, stellt sich die Frage.

Das Ansehen der USA befand sich bereits in den letzten Monaten im freien Fall. Die Fernsehzuschauer in der arabischen Welt sind an die schmutzige Seite des Irakkriegs gewöhnt. Zur Primetime bekamen sie von Al Jazeera oder Al Arabiya die Bilder von toten und verwundeten Zivilisten aus Falluja geliefert. Sie sehen die nicht enden wollenden Verhaftungen von Irakern mit Kapuzen über dem Kopf; sehen Reportagen über das Schicksal hinter den Todesstatistiken, Familiendramen, trauernde Witwen, Waisenkinder; das soziale Elend im Irak, das man in den Vorstädten von Bagdad findet, wo die Abwässer auf den Straßen fließen.

Gräueltaten der Besatzer sind für sie schrecklicher Alltag geworden. Die Fotos von den Folterungen bestätigten nur, was schon feststand. Die amerikanischen Truppen sind keine Befreiungs-, sondern eine Okkupationsarmee. Es zeigt sich ein für viele Araber bekanntes Szenario: Ein Regime wird durch ein anderes ersetzt, die Unterdrückung bleibt.

»Für den Irak sind die Enthüllungen eine Katastrophe«, erklärte der Herausgeber der Wochenzeitung Al Ahali und der Tageszeitung Iraq Today, Hussein Sinjari, am Rande einer deutsch-arabischen Medienkonferenz in Beirut. »Jetzt wird es für Liberale wie mich noch schwieriger, über Menschenrechte und Demokratie im Irak zu sprechen.« Er habe vor drei Monaten die Veröffentlichung des Gefängnisskandals in seinen Zeitungen abgelehnt, obwohl genug Beweise vorgelegen hätten. Er habe aber keine Stellungnahme von US-Stellen dazu bekommen können. Der Hauptgrund für die Entscheidung, die Bilder nicht zu publizieren, sei jedoch, dass kein »Wasser auf die Mühlen der Islamisten« fließen sollte. »Aber jetzt ist überall die alte Leier zu hören«, meinte Hussein Sinjari, der auch Präsident des Irakischen Instituts für Demokratie ist. »Seht doch, die Amerikaner haben nichts zu bieten. Wir dagegen haben den Islam, der einzigartig und vollkommen ist.« Was zu erwarten ist? Mehr Gewalt gegen die Koalitionstruppen.

Für alle religiösen Moslems, nicht nur für die radikalen Islamisten, sind die Fotos der Misshandlungen ein moralischer Affront. Auf den Bildern sind Grausamkeiten zu sehen, die körperlichen und seelischen Schmerz zufügen und zugleich als Verletzungen kultureller Kodices funktionieren. Da geht es um Familienehre, um Schamgefühl, um Tabus, die als unantastbar gelten. In Pakistan, Jordanien oder im Jemen gibt es immer wieder Blutfehden um »Ehrverletzungen« zwischen Familien oder Stämmen. In einer moslemischen Gesellschaft, die sich nach außen so sittsam gibt, nackt fotografiert zu werden, stellt eine ungeheuerliche kollektive Demütigung und Erniedrigung der ganzen Familie dar. Von körperlichen Misshandlungen und Vergewaltigung gar nicht zu sprechen.

Die radikalen Islamisten werden die »Taten der Ungläubigen« im Gefängnis von Abu Ghraib als weiteren Beweis dafür sehen, dass es dem Westen, in vorderster Linie den USA, nur darum geht, die arabisch-islamische Welt zu rekolonisieren und dabei die traditionellen Werte und die religiöse Identität zu transformieren. Eine Behauptung, die Ossama bin Laden immer wieder in seinen Verlautbarungen vorbringt. Bei dieser Verschwörungstheorie »Westen gegen Osten« darf Palästina, der andere beispielhafte »Schauplatz der Ungerechtigkeit«, nicht fehlen. Die Teheraner Zeitung Resalat meinte, die Vorgänge im Bagdader Gefängnis seien »ein Resultat des Einflusses der Zionisten auf die amerikanischen Besatzer«. Auch auf einer Demonstration in Beirut wurden die Misshandlungen im Irak unmittelbar mit der Behandlung von Palästinensern durch Israel verglichen.

Die US-Soldatin Lynndie England sitzt zurzeit in Haft und wartet auf ihren Prozess. Mit 17 ist sie zur Armee gegangen, um Geld zu verdienen und später einmal Meteorologie zu studieren. Sie stammt aus der weißen Unterschicht der USA, lebte mit ihrer Familie in einem Wohnwagenpark. In Fort Ashby, West Virginia, tiefste amerikanische Provinz, wo es noch »wahres, weißes Bewusstsein« gibt und wo in einer Lokalzeitung schon mal eine Atombombe als Lösung des Nahost-Konflikts vorgeschlagen wird. Der Daily Mirror interviewte eine Frau aus der Heimatregion von Lynndie England: »Für die Landbevölkerung ist man ein Untermensch, wenn man einer anderen Rasse oder Nationalität angehört. Iraker zu quälen, ist in ihren Augen, wie Truthähne zu schießen.«