Das große Identitätärä

Um sich mit sich selbst so richtig wohl zu fühlen, braucht der Deutsche seine Patriotismus-Debatte. von thomas blum

Die Deutschen werden und werden ihren Minderwertigkeitskomplex nicht los. Dass sie zwei Weltkriege verloren haben, wurmt sie bis heute. Ihr Humor, eine Mischung aus Kneipenseligkeit, Ressentiment und Schadenfreude, ist so berüchtigt wie die britische Küche. »Der deutsche Mensch hat den tierischen Ernst einer Kuh, eines Hundes, eines Möbelstücks. Dergleichen lacht nicht.« Am wenigsten über sich selbst, obwohl es zurzeit Anlass genug gäbe. Das fiel bereits Kurt Tucholsky auf, ebenso wie die »bombastische Schwerfälligkeit«, mit der jeder Deutsche »seinen kleinen Sparren in Szene setzt, aufpustet, ernst nimmt«. Der Sparren des Deutschen heißt momentan ›Patriotismus‹. »Deutsch sein«, wusste George Grosz, »heißt immer: geschmacklos sein, dumm, hässlich, dick, unelastisch.« Und weil das so ist und es auch dem Ausland nicht entgangen ist, dass es so ist, versucht der Deutsche seit je verzweifelt, auf anderen Gebieten etwas zu werden. Jetzt ist er schon nacheinander Menschenvernichtungsweltmeister, Wirtschaftswunderweltmeister, Fußballweltmeister, Wiedervereinigungsweltmeister, Rassismusweltmeister, Vizefußballweltmeister und Exportweltmeister geworden, und dennoch kann ihn keiner leiden. Und er hat noch immer nicht begriffen, was er falsch gemacht hat. Im Gegenteil: Je weniger man ihn zu Recht leiden mag, desto mehr plustert er sich auf und desto deutscher gebärdet er sich.

Zurzeit führt er daher mit viel Geräusch eine so genannte Patriotismusdebatte auf, das braucht der Deutsche ab und zu, so wie andere ab und zu einen Schnaps oder ein warmes Fußbad brauchen, sonst fühlt er sich nicht wohl. In einer solchen Debatte glaubt der Deutsche, sich mit anderen Deutschen zu streiten, dabei sind wie immer alle einer Meinung, sie merken es bloß nicht.

So will im Deutschlandradio die Achtundsechzigerin und Publizistin Cora Stephan ja praktisch auch endlich nichts mehr hören von dem blöden Hitler: Zur Vergangenheit gehöre »weit mehr als die schmutzigen zwölf Jahre Hitler, auf die wir uns selbst reduziert haben«.

Und auch die unvermeidlichen diversen austauschbaren Kulturhansel stimmen wie stets ein in den Chor. In der Zeit schreibt Oliver Bierhoff: »Deutsche haben allen Anlass, mit Stolz auf die Leistungen ihres Landes zu schauen.« Herbert Grönemeyer erzählt uns dort was vom »Musterland« Deutschland, in dem »alle füreinander da« seien, und Bierhoff spricht davon, »wie gut es vielen Menschen hierzulande geht«. Auch Martin Walser erzählt zum 50. Mal, dass er den »täglichen Text«, wie er ihn nennt, den »Alltagstext« über die deutschen Verbrechen der Vergangenheit nicht mehr hören mag. »Das ist das, was weh tut: Dass das Deutsche, der Deutsche, die Deutschen, dass wir überhaupt nur erscheinen als Todesdrohung. Als die pure Feindseligkeit.« Dreimal Deutsch und einmal Wir in einem Satz, das soll ihm erst mal jemand nachmachen.

Wenn er auch keinen Grund dazu hat, so will der Deutsche doch immerfort stolz und optimistisch und lebensfroh und zuversichtlich und ein Patriot sein, da geht ihm »die Seele auf wie ein Butterkuchen« (Tucholsky). Und wenn er erwerbslos ist, dann soll er eben nicht jammern, sondern die Nationalhymne absingen.

Stolz sein sollen die Deutschen unter anderem auf ihre Sprache bzw. auf das, was sie daraus gemacht haben, eine Mischung aus Reklamegeschwätz und SMS-Deutsch, auf ihre »Kultur«, was immer damit gemeint sein mag (Beckenbauer? Lindenstraße? Rassenkunde?), und auf ihre Demokratie, die sie nicht hätten, wenn sie ihnen nicht von den Alliierten verordnet worden wäre.

An Patriotismus herrscht hierzulande ebenso wenig Mangel wie an Bier. Die Deutschen sind seit jeher stolze Patrioten. Ihren Patriotismus zeigen sie bevorzugt dadurch, dass sie denjenigen internieren, aus dem Land ekeln oder totschlagen, der sich die Frechheit erlaubt, anders auszusehen, anderer Meinung zu sein oder andere Topfpflanzen zu bevorzugen als sie.

Die Deutschen mögen es drehen und wenden, wie sie wollen. Sie können ihre kollektive Wahnvorstellung davon, wie wichtig sie selbst und ihr kümmerliches und trostloses Land mit seinen Fußgängerzonenblumenrabatten und seinen erbärmlichen kulturellen Hervorbringungen sind – von der gefürchteten Currywurst bis zum deutschen Film und zur deutschen Schlagermusik –, noch so oft umtaufen, sie können sie »Heimatliebe« nennen oder »kulturelle Identität«, es bleibt am Ende doch der alte Schmarren mit Nationalhumbug und Identitätära.

Sie können fortwährend Harmlosigkeit, Friedensliebe und Multikulti simulieren und so tun, als seien sie wie andere Nationen, am Ende wird jeder bei Verstand gebliebene Mensch doch nicht umhinkönnen, die deutsche Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen:

Nichts lässt dem Deutschen das Herz so sehr aufgehen wie das befriedigende Gefühl, Angehöriger der deutschen Gemeinschaft sein zu dürfen. Tief in sich scheint er etwas zu brauchen, »was uns eint, was uns miteinander identifiziert« (Rheinischer Merkur), was ihn also mit den anderen Tröpfen seines Schlages innerlich zusammenleimt. Und sei es nun in Ober- oder Untertrottelheim, das Subjekt mit der falschen Hautfarbe oder Haartracht ist ihm unerwünscht. Die Deutschen sind so, da ist nichts mehr zu machen.

Das Wesentliche hierzu ist bei Heinrich Heine nachzulesen, und es ist heute nicht weniger gültig als vor 170 Jahren: »Man suchte den Gemeinsinn unter den Deutschen zu wecken, und sogar die allerhöchsten Personen sprachen jetzt (…) vom deutschen Vaterlande (…) Man befahl uns den Patriotismus, und wir wurden Patrioten; denn wir tun alles, was uns unsere Fürsten befehlen. Man muss sich aber unter diesem Patriotismus nicht dasselbe Gefühl denken, das hier in Frankreich diesen Namen führt (…) Der Patriotismus des Deutschen besteht darin, dass sein Herz enger wird, dass es sich zusammenzieht wie Leder in der Kälte, dass er das Fremdländische hasst, dass er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur ein enger Deutscher sein will.« Dieser Patriotismus, fügt Heine an dieser Stelle handschriftlich hinzu, sei »nur eine tierische Anhänglichkeit an Deutschland, wie sie etwa auch der Esel empfindet für seinen Stall«, wobei insbesondere der Deutsche Wert darauf lege, »mit einem deutschen Stock geschlagen zu werden« und nicht etwa mit einem anderen.

Wer »Patriotismus« sagt in diesem Land, darf sich also nicht wundern, wenn man im Ausland aus gutem Grund zusammenzuckt.

Denn das letzte Mal, als dieses Wort in Deutschland dauerhaft penetrant hinausposaunt wurde, hat man noch gut in Erinnerung, zu jener Zeit waren gerade auch andere berühmt gewordene deutsche Wörter wie »Blitzkrieg«, »Untermensch« und »Endlösung« in Mode.

Wenn in diesem Land das Wort »Patriotismus« erklingt, steht uns Übles bevor.

Aus gutem Grund hört man im Geiste dann den Stechschritt knallen, den Rohrstock oder den Baseballschläger herniedersausen und Ausländer um ihr Leben flehen. Das wird auch künftig so sein, und wer das leugnet, dem ist nicht über den Weg zu trauen.