Heim ins Inkareich
Man sollte mit den Chilenen machen, was Hitler mit den Juden getan hat!« So deutlich wie vor einigen Jahren noch drückt sich der ehemalige Oberstleutnant Ollanta Humala Tasso heute nicht mehr aus. Nun, da er in den Umfragen zu den bald stattfindenden Präsidentschaftswahlen in Peru auf Platz zwei rangiert, schlägt er ein wenig vorsichtigere Töne an. Aber auch so ist seine Rhetorik widerwärtig genug. Mit seiner Peruanischen Nationalen Partei würde er gerne das »Tahuantinsuyo« wieder aufbauen, das Inkareich in seinen Grenzen vor der spanischen Eroberung.
Erdacht haben sich diese ultra-nationalistische Ideologie in erster Linie Ollantas Vater Isaak und sein Bruder Antauro. Sie wird als ethnocacerismo bezeichnet, in Anlehnung an General Andrés Avelino Cáceres, der sich nach dem Ende des Salpeterkrieges (1879 bis 1883) noch einen Guerillakampf mit den Chilenen geliefert hatte.
Im Zentrum dieser millenaristischen Ideologie steht neben dem Wiederaufbau des Inkareichs die Ablehnung alles Fremden, insbesondere alles Chilenischen. Eine »wahre«, das heißt dem »Volk und seinem Charakter entsprechende Regierungsform« soll die »kreolische Demokratie« ersetzen, welche »das Volk von seinen Wurzeln entfremdet«, wie Antauro in seinem Buch »Die peruanische Armee: Nationalismus, Millenarismus und Ethnocacerismus« schreibt. Ausgeschlossen vom Projekt der neuen peruanischen Nation werden explizit die Nachfahren von europäischen, asiatischen und insbesondere chilenischen Einwanderern. Seine Ideologie zeigt sich als krude Mischung aus Öko- und Ethnokitsch. Der neue Inkastaat soll auch umweltbewusster sein, als es die peruanische Republik bisher gewesen ist. Das politische Subjekt dieser Ideologie ist die »kupferfarbene Rasse« der indigenen Bevölkerung, die bereits in ihrem Blut die Voraussetzungen für ein harmonisches Gemeinwesen trage, wie Antauro weiter schreibt. »Die Humala-Brüder tauschen lediglich die barbarischen Wälder Germaniens gegen die kargen Berge des Inkareichs aus«, kommentierte Sergio Kirnan kürzlich in einem Artikel für die linke argentinische Tageszeitung Página 12 die Parallelen zwischen dem Nationalsozialismus und dem Ethnocacerismus.
Doch trotz dieser offensichtlichen Nähe zur NS-Ideologie wird der Ethnocacerismus von vielen linken LateinamerikanerInnen für gut befunden. Auch Hugo Chávez unterstützt offen die Kampagne von Ollanta Humala. Als Evo Morales bei seiner Antrittsreise Chávez in Caracas besuchte, war auch Humala anwesend. Morales betonte dabei mit Blick auf dessen möglichen Wahlsieg die Wichtigkeit, »dass die gesamten revolutionären Bewegungen in der Region zusammenarbeiten«. Zwar sympathisiert Humala eher mit dem unterlegenen Präsidentschaftskandidaten Felipe Quispe, aber dennoch begrüßte er ausdrücklich Morales’ Wahlsieg in Bolivien.
Der Grund, weshalb viele Linke in Lateinamerika nur wenige Berührungsängste mit solchen tatsächlichen »Ethnochauvinisten« (Horst Pankow, Jungle World 04/2006) wie Humala haben, liegt in der rassistischen Ausgrenzung der Mehrheitsbevölkerungen in Lateinamerika. Tatsächlich waren und sind die meisten Staaten in Lateinamerika seit der Unabhängigkeit im 19. Jahrhundert rassistische Regime. Gesellschaftliche und politische Teilhabe blieben immer auf die weißen und mestizischen Ober- und Mittelschichten begrenzt.
Wenn dann ein Nationalist wie Humala die ausgeschlossenen Unterschichten zu repräsentieren versucht, wird das von vielen Linken als progressiv wahrgenommen. Der Versuch, rassistisch diskriminierte Bevölkerungsgruppen an der Gesellschaft teilhaben zu lassen, ist in den Ländern Lateinamerikas zwar tatsächlich »schon eine ganze Menge«, wie Gaston Kirsche in der Jungle World 09/2006 schreibt, dennoch sollte dies nicht den Blick darauf versperren, dass die meisten linken Ideologien in Lateinamerika in erster Linie dazu dienen, kollektive Identitäten, Nationen zu konstruieren.
In Lateinamerika waren und sind es in erster Linie korporatistische Bewegungen und Parteien, welche ein Nationalbewusstsein erschufen. Ob das Regime von Juan Perón in Argentinien, der »Estado Novo« von Getúlio Vargas in Brasilien oder die Präsidentschaft Lázaro Cárdenas del Rios in Mexiko: Sie alle bedienten sich nationalistischer Rhetorik und versprachen, einen »paternalistischen« Staat aufzubauen, der sich um die bisher Verdammten dieser Länder liebevoll kümmern würde.
Tatsächlich führten diese Regierungen Arbeitsschutzgesetze, das Frauenwahlrecht und die Ansätze einer staatlichen Gesundheitsvorsorge ein. Auch verstaatlichten sie so genannte Schlüsselindustrien wie metallurgische und chemische Betriebe. Doch die staatlichen Gewerkschaften, die sie schufen, dienten eher dazu, einer autonomen Organisation der Arbeiter vorzubeugen und das Proletariat in ihre korporatistischen Staatsprojekte einzubinden.
Besonders taten sich die genannten Präsidenten bei der kulturellen Konstruktion ihrer jeweiligen »Nationalidentitäten« hervor. Waren ihre Vorläuferregierungen exklusive Veranstaltungen der Oberklasse, so bezogen diese Präsidenten umso offensiver die Unterschichten ihrer Länder in ihrer Rhetorik mit ein. So bauten sie aus den postkolonialen Staaten, die intern sehr wenig integrativ waren, überhaupt erst Nationalstaaten auf.
So ist vieles von dem, was heute als typisch argentinisch/mexikanisch/brasilianisch wahrgenommen wird, erst das Produkt dieser Identitätskonstruktionen. Zum Beispiel war Samba in Brasilien vor der Präsidentschaft von Vargas ein kulturelles Phänomen, das sich fast ausschließlich auf Rio de Janeiro beschränkte. Erst mit dem landesweit ausgestrahlten Radioprogramm »Hora do Brasil«, in dem Vargas sich regelmäßig rühmte, was er wieder Großartiges für die Nation getan habe, und das von Sambatönen untermalt wurde, erlangte die Musik überregionale Beliebtheit. Hugo Chávez verfolgt mit seinem Fernsehprogramm »Aló Presidente« ähnliche Bestrebungen: die Nation zu einen und auf ihn einzuschwören.
Vor dem Hintergrund der postkolonialen Staatsbildung erleben viele LateinamerikanerInnen den jeweiligen Nationalstaat, in dem sie leben, als defizitär. Das ist auch kein Wunder, beziehen sich die Begriffe »Staat« und »Nation« doch in erster Linie auf europäische Phänomene. Der fragmentierten Staatlichkeit, wie sie doch in fast allen lateinamerikanischen Ländern existiert, werden diese Begriffe und ihre Konnotationen jedenfalls kaum gerecht. Deshalb wird fast jede politische Organisation, die sich positiv auf »die Nation« bezieht und sich um eine größere Integration der Bevölkerung bemüht, als »links« wahrgenommen. Umgekehrt kann kaum eine linke Bewegung in Lateinamerika ohne einen positiven Bezug auf die Nation auskommen. Auch der EZLN will sich nicht von der Nation emanzipieren, sondern die Indigenen in einen besseren Nationalstaat integrieren.
Deshalb verehren in Mexiko, Brasilien und Argentinien viele Linke noch immer Cárdenas beziehungsweise Vargas oder Perón als »die besten Präsidenten, die das Land je hatte«. Und das, obwohl die beiden letztgenannten offen mit den zeitgenössischen faschistischen Regimen in Europa sympathisierten. Als sich im November vergangenen Jahres lateinamerikanische Linke zum »3. Gipfel der Völker Lateinamerikas« im argentinischen Mar del Plata trafen, rief Hugo Chávez mehrmals in die Menge: »Viva Perón! Viva Evita!«, und die Leute waren begeistert.
So artikuliert sich linke Politik in Lateinamerika oft als Sehnsucht nach einem korporatistischen Staat, der die Armen in die Nation integrieren soll. Linke Ideen verkommen so zu einem Werkzeug des nation building. Linke Kritik wendet sich häufig ausschließlich gegen den Imperialismus und die »vende-patrias«, die »Vaterlandsverkäufer/-verräter«, und nicht gegen die kapitalistische Verwertungslogik. Und linke Politik wendet sich oftmals auch gegen Individualismus und die Emanzipation von der Nation und hat in dieser Form einen antiaufklärerischen Gehalt.
Doch greift Andrés Pérez González’ Vorschlag (Jungle World 04/06), autoritäre Regierungen von libertären Regierungen anstatt linke von rechten zu unterscheiden, zu kurz. Bloß weil ein lateinamerikanischer Politiker bürgerliche Positionen vertritt, macht ihn das noch nicht zum Vertreter der Aufklärung. In Lateinamerika existieren einige der ältesten liberalen Parteien der Welt. Doch die traditionellen Eliten verteidigten ihre gesellschaftliche Vormachtstellung mit Bezug auf die bürgerlichen Freiheiten, wie sie in Europa erkämpft wurden; insbesondere mit Bezugnahme auf die bürgerliche Freiheit des Privateigentums, der als Landbesitz die politische Macht dieser Eliten garantierte.
»Ideas fora do lugar« – »fehlplatzierte Ideen« – nennt der brasilianische Literaturwissenschaftler Roberto Schwarz dieses Phänomen. Damit meint er, dass die lateinamerikanischen Eliten Fortschrittsideologien wie den Liberalismus importierten, obwohl diese nichts mit den sozioökonomischen Gegebenheiten in ihren Ländern zu tun haben, die eher von Klientelismus und Zwangsarbeit als von freier Lohnarbeit und industriellem Kapitalismus gekennzeichnet sind. Die Utopie des Liberalismus funktioniert in Lateinamerika mit seiner kolonialen Vergangenheit noch schlechter, als dies in Europa der Fall war.
Doch auch die Versuche der lateinamerikanischen Linken, einen »guten« oder zumindest »besseren« Nationalstaat aufzubauen, sind ebenso »fehlplatzierte Ideen«, die nicht mit der sozioökonomischen Realität korrelieren. Doch fordert kaum eine linke Organisation in Lateinamerika die Befreiung jenseits von Staat, Nation und Kapital. Viel zu oft lassen sich linke Bewegungen von vermeintlich linken Staatschefs, die als »Hoffnungsträger« wahrgenommen werden, einbinden. Wahre Befreiung muss jedoch außerhalb staatlicher Strukturen geschehen. Zumindest einige linke Bewegungen, wie die FabrikbesetzerInnen in Argentinien oder die LandbesetzerInnen in Brasilien, machen mit ihren Aktionen weiter, auch wenn mit Luíz Inácio Lula da Silva und Néstor Kirchner »linke Hoffnungsträger« an der Regierung sind.