Gelbe Karte für die Präsidentin

In Chile protestieren Schüler gegen die Bildungsgesetze. Mit den Kompromissvorschlägen der Regierung sind sie nicht zufrieden. von andrés pérez gonzález, santiago de chile

Sie protestieren ohne einheitliche Führung, und ihre Sprecher werden nach dem Rotationsprinzip ausgetauscht. Sie haben sich im Schülerbündnis Aces (Asamblea Coordinadora de Estudiantes Secundarios) zusammengeschlossen, und auf ihren Versammlungen dulden sie keine Einmischung von politischen Parteien, obwohl es unter ihren Sprechern einige Mitglieder von verschiedenen Parteien gibt.

Die Schüler- und Studentenproteste gegen die Bildungsgesetze dauern seit fast einem Monat an, nach Angaben der Aktivisten beteiligt sich eine halbe Million Menschen an der Besetzung von Schulen und Universitäten. Die Jugendlichen protestieren gegen das noch aus der Zeit der Militärdiktatur stammende Bildungsgesetz, und die Bewegung hat die seit März amtierende Regierung der sozialistischen Präsidentin Michelle Bachelet in Bedrängnis gebracht. Fast 80 Prozent der Schüler haben dem von der Aces beschlossenen landesweiten Streik zugestimmt. Die christdemokratisch-sozialistische Koalitionsregierung der Concertación de Partidos por la Democracia hat nicht mit sozialen Protesten in diesem Ausmaß gerechnet.

Die Proteste begannen friedlich, doch in ihrem Verlauf kam es mehrmals zu direkten Zusammenstößen mit der Polizei, die gegen Jugendliche, Journalisten und Passanten mit einer Härte vorging, die an die Zeit der Diktatur Pinochets erinnert. Die Polizeieinsätze wurden von einigen Schülersprechern als »terroristisch« bezeichnet, und selbst die Regierung verurteilte sie als »inakzeptabel« und »nicht zu rechtfertigen«. Sie ordnete die sofortige Amtsenthebung der für den harten Einsatz in Santiago verantwortlichen Beamten an.

Bei den Besetzungen mussten sich die Schüler außerdem mit Banden von Neonazis auseinandersetzen. Am 16. April ermor­deten Rechtsextreme einen jungen Antifaschisten aus Santiago, bei den Untersuchun­gen der Justiz wurden Verbindungen der Täter mit Angehörigen des Militärs festgestellt.

Bis zum Wochenende wurden mehr als 800 Jugendliche festgenommen. Dennoch sollen die Proteste weitergehen, da die Schüler die von der Präsidentin am vergangenen Freitag angekündigten Maßnahmen nicht als ausreichend ansehen. Diesen zufolge soll die schulische Infrastruktur verbessert werden, das ermäßigte Schülerticket soll auch am Wochenende gelten und die Aufnahmeprüfung für die Universität soll für die ärmsten Schüler kostenlos sein. Zudem soll dem Kongress im Juli ein Vorschlag zur Reform des umstrittenen Bildungsgesetzes vorgelegt werden.

Die Bewegung dagegen fordert ein kostenloses Schülerticket und den generellen Verzicht auf Studiengebühren. Der Staat soll »Garant« der Qua­lität der Bildung sein. Das chilenische Bildungssystem ist auf Privatisierung ausgerichtet, als beste Institute gelten die Privatschulen, in denen jedoch nur 8,5 Prozent der Schüler unterrichtet werden. Viele Schulen werden von Gemeinden verwaltet, denen es an Geld und Kompetenz mangelt.

Kommentatoren reden von einer unerwarteten »Revolution der Pinguine«, eine Anspielung auf die Farben der Uniform an öffentlichen Schulen. Die »Pinguine« brächten nach dem Übergang von der Militärdiktatur zur Demokratie Unruhe in die phlegmatische Gesellschaft der postrancisión, die die extreme soziale Ungleichheit nicht beseitigen konnte. Nur in weni­gen Ländern der Welt ist das Einkommen noch ungleicher verteilt als in Chile.

Andere behaupten, dass es sich nicht nur um die erste soziale Bewegung in der Demokratie handelt, sondern auch um die erste Revolte einer Generation, die den Autoritäten nicht vertraut und Hierarchien ablehnt. Und es gibt Anzeichen dafür, dass sich die Radikalität und der utopische Geist dieser »Meuterei im Klassenzimmer« auf den Rest der Gesellschaft ausdehnen könnten.

übersetzung: nicole tomasek