Frische Kinderkacke

Abscheu, Revolution, Angst: Von der neuen Platte »Zimmer 483« von Tokio Hotel darf man sich einiges erwarten

Abscheu!

Ich finde, die Lieder sind mit zu wenig Gefühl gesungen. Man versteht den Text manchmal gar nicht, weil er meistens nur geschrien wird.

Die Musik könnte außerdem ein bisschen langsamer sein. Das Rockige nervt auf Dauer. Im Vergleich zu der Band Juli singen Tokio Hotel immer nur über Schlech­tes. Juli singen dagegen zum Beispiel: »Ich liebe dieses Leben.« Auf so etwas kämen Tokio Hotel nie.

Juli lassen sich auch viel schönere Anfangs­melodien einfallen, sie sind nicht immer nur rockig. Die Gitarre bei Tokio Hotel klingt meistens gleich: laut und schnell und kratzig. Bei Juli hat jedes Lied eine eigene Melodie. Die Musik ist viel abwechslungsreicher.

Bei uns in der Klasse sind Tokio Hotel überhaupt nicht beliebt. Wir verabscheuen sie.

josephine burckhardt, 10 jahre

Revolution!

»Wir sind durch die Stadt gerannt/haben keinen Ort mehr erkannt/an dem wir nicht/schon einmal waren.« Der Anfang des Rock’n’Roll-Musikstücks »Übers Ende der Welt«, das die neue Platte von Tokio Hotel eröffnet, verweist deutlich auf die Totalität der Gleichförmigkeit des Daseins in der kapitalistischen Warenwelt. Die Orte des ruhelosen, hektischen Konsums, von der Schnellrestaurantkette bis zur Filiale eines Bekleidungsgeschäfts für Jugendmode, sind austauschbar. Die bun­te Oberfläche der Gebäude ist genormt, ein Ort ist wie der andere. Wo auch immer man sich aufhält: Man ist nie daheim.

Trotz der vermeintlich extremen Permis­sivität der westlichen, postmodernen Spaß­gesellschaft (»Wir haben alles ausprobiert/die Freiheit endet hier«) keimt im langsam zum revolutionären Subjekt reifenden Erzähler ein diffuses Unbehagen. Die trügerische »Frei­heit« des Neo­liberalismus wird als dem Verblendungszusammenhang innewohnendes Gaukelspiel ent­tarnt. Die scheinbare »Frei­heit endet« dort, wo sich Wünsche und Bedürfnisse artikulieren, die nicht mehr durch den Warenkonsum befriedigt werden können. Die Verelendung der sozial Ausgegrenzten wird von den gleichgeschalteten Medien der herrschenden Klasse ausgeblendet (»Den Abgrund siehst du nicht«).

Der heftig auflodernde Impuls zum Widerstand wird dem Hörer – man ist geschult in moderner Lyrik – in subtil verschlüsselter, verrätselter Form übermittelt (»Wir müssen jetzt/durch diese Wand«). Die »Wand« muss hier als Chiffre für »Begrenzung«, für die Isolation des machtlosen Einzelnen und die Repression im weitesten Sinne ge­lesen werden. Nur wenn die soziale Revolte, der spontane Aufruhr, das Freiwerden anarchistischer Energie begleitet wird von einer bedingungslosen Solidarisierung der Arbeiterklasse mit den anderen unterdrückten sozialen Minderheiten (»Wir schaffen es zusammen/übers Ende dieser Welt/die hinter uns zerfällt«), kann das Endstadium des ohnehin »zerfallenden« Spätkapitalismus überwunden werden und sich schlagartig der Horizont öffnen und die Ahnung einer befreiten Gesellschaft aufschimmern (»Achtung, fertig, los und lauf/vor uns bricht der Himmel auf … Es kann der Anfang sein/Morgen ist zum Greifen nah«). Tokio Hotel haben als kommunistische Avantgarde bereits erfolgreich den kulturindustriel­len Sektor infiltriert. Die Revolution ist nur noch eine Frage der Zeit.

thomas blum, 38 jahre

Teenage Angst!

Viele Dinge sind erstaunlich an Tokio Hotel, nichts allerdings mehr als ihr überwältigender Erfolg. In den Zeiten, als Menschen noch ernsthaft Schallplatten kauften, hätte die Band viele Millionen verkauft. So sind es immer noch viele hunderttausend, und zwar nicht nur in Deutschland. In Frankreich haben die Jungs gerade für »Schrei« eine Goldene Schallplatte bekommen, in Polen kamen sie bis auf Platz vier der Charts, in Moskau sind sie vor vielen tausend Menschen auf­getreten, das neue Album dürfte ähnlich gut laufen. Tokio Hotel sind die erfolgreichste deutsche Band seit Rammstein. Wie kann das sein? Zum einen dürfte es am umgedrehten No­rah-Jones-Effekt liegen: Ihren Hörern wird nachgesagt, sie seien zu alt, um noch lernen zu können, wie man sich Musik aus dem Netz herunterlädt. Bei Tokio Hotel kann man davon ausgehen, dass es genau umgekehrt ist. Die Zielgruppe sind Mädchen zwischen 9 und 14. Außerdem schadet es natürlich nie auszusehen, als sei man gecastet, und gleichzeitig darauf zu bestehen, dass dies eben nicht der Fall sei. Das Zwillingspaar Bill und Tom Kaulitz gibt in seiner ganzen Unterschiedlichkeit ein wunderbares Zentrum ab. Nicht nur, weil der eine androgyn und dunkel ist und der andere jungenhaft und lustig. Auch der Bezug auf popkulturelle Zeichen ist so interessant wie gelungen: J-Pop beim einen, der Skaterlook mit Dreadlocks beim anderen. Eine solche Achse funktioniert fast immer. Da braucht es nur noch einen Bassisten und einen Schlagzeuger. Was Tokio Hotel perfekt verkörpern, ist jene »Suburban Teenage Angst«, wie man sie eben nicht empfindet, wenn man in Kreuzberg oder Schwabing aufwächst. Hier spricht Mag­deburg, jene lebensweltliche Vollprovinz, die trotzdem längst nicht mehr so ahnungslos ist wie noch vor einigen Jahren. Dort fühlt man sich aber von der großen, aufregenden weiten Welt noch viel stärker abgeschnitten. »Tokio ist schon irgendwie der Wahnsinn, obwohl wir alle noch nie da waren«, hat Sänger Bill in einem Interview gesagt. Das fasst dieses Lebensgefühl gut zusammen. Dieses Gefühl, eingesperrt und unverstanden zu sein, vermittelt die Band wiederum durch gegensätzliche Signale: Da gibt es den recht harten Sound von Tokio Hotel, der viel mit Emo-Rock zu tun hat und wenig mit den Popentwürfen, die sonst für die Zielgruppe vorgesehen sind. Der Klang der Band passt aber auch zum Aussehen von Sänger Bill, zu dieser ganz erstaun­lichen Weichheit und Mädchenhaftigkeit. In diesem Durcheinander kann man es sich für eine Weile einrichten.

tobias rapp, 35 jahre

Tokio Hotel: Zimmer 483 (Universal)