Leben auf einer Zielscheibe

Sderot ist eine ganz normale israelische Kleinstadt am Rand der Wüste Negev mit einer lebendigen multikulturellen Universität. Doch seit sechs Jahren schlagen in der Umgebung fast täglich palästinensische Qassam-Raketen ein. von ivo bozic (text und fotos)
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Fast jeden Tag strahlt die Sonne am Himmel über Sderot, fast in jeder Nacht ist der Mond zu sehen. Schon von weitem ist ein weißer Zeppelin zu erkennen, der an einem langen Seil befestigt über der Landschaft schwebt. Malerisch grün ist es hier, über­all blühen Palmen, es gibt Olivenhaine, Orangen- und Zitronenbäume. Hier liegt Sderot, 75 Kilometer südlich von Tel Aviv, ein Stück landeinwärts von der historischen Küstenstadt Ashkelon. Im Süden der Stadt verläuft die Grenze. Dahinter liegt der Gaza-Streifen.

Sderot ist eine normale israelische Kleinstadt mit einem normalen Einkaufszentrum, Spielplätzen, ein paar Straßencafés. Sportartikelgeschäfte gibt es hier und einen belebten Markt. Knapp 20 000 Menschen leben hier, der Anteil der Neueinwanderer aus Russland, Georgien und der Ukraine ist deutlich höher als in Tel Aviv oder Jerusalem, und auch die Einwanderer aus Äthiopien und Süd­amerika sind zahlreich. Viele Schilder sind zweisprachig verfasst, in Hebräisch und in Russisch. Viele, die hier leben, würden zwar gerne wegziehen, doch es fehlt ihnen das Geld dazu. Es gibt wohlhabendere Städte als Sderot, das ohne Zweifel zur israelischen Peripherie gehört. Aber ansonsten wirkt alles sehr beschaulich, sehr normal eben.

Doch dieser Zeppelin, der ständig über den Köpfen der Menschen schwebt, erinnert die Bewohner von Sderot und Ashkelon daran, dass ihr Leben keineswegs normal ist. Dass von oben ständig Gefahr droht, dass hier jeder, ob Jude oder Muslim, ob Rentner oder Kind, quasi Tag für Tag auf einer Zielscheibe lebt.

Am 16. April 2001 landete die erste im Gaza-Streifen abgeschossene Qassam-Rakete in der Nähe von Sderot. Sechs Jahre ist das her. Seitdem regnet es Raketen. Seit dem israelischen Rückzug aus dem Gaza-Streifen im Sommer 2005 sind über 1 500 Qassam-Raketen aus dem Gaza-Streifen auf israelisches Gebiet abgefeuert worden, die meisten davon landeten in oder um Sderot. Acht Menschen starben bei den Angriffen, über hundert wurden verletzt, einige davon schwer. Der Zeppelin am Himmel ist Teil des israelischen Alarmsystems, das sich »Morgenröte« nennt.

Die Menschen haben sich an die einschlagenden Raketen gewöhnt. Das klingt verrückt, aber es bleibt ihnen nichts anderes übrig. Das Haus, den Job, Familie und Freunde zurücklassen? Eine ganze Stadt einfach so aufgeben, den Terroristen nachgeben? Am 3. Februar, am Tag des jüdischen Baum­festes, wurde in Sderot im Rahmen einer Gedenkfeier ein Jugendzentrum der religiös-zionistischen Jugendorganisation Bne Akiwa nach Ella Abu Kassis benannt. Die damals 17jährige Jugendgruppenleiterin war vor zwei Jahren bei einem Angriff mit Qassam-Raketen ums Leben gekommen.

Außerdem wurden Bäume gepflanzt, die symbolisieren sollen, dass man nicht willens ist, Sderot aufzugeben. Das verkündet auch ein Transparent, das am Marktplatz hängt: »Sderot ist unsere Heimat«. Das klingt trotzig. Doch so langsam wächst in der Bevölkerung der Unmut. Von der Regierung in Jerusalem fühlt man sich im Stich gelassen. Bereits mehrmals gab es kleinere Demonstrationen. Im Juni vergangenen Jahres blockierten Bewohner die Zufahrtsstraßen zur Stadt, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. »Der Süden gehört auch zu Israel«, stand auf einem Transparent geschrieben.

Tatsächlich haben alle Militäreinsätze im Gaza-Streifen und die Schleifung von rund 73 palästinensischen Häusern, aus denen Raketen abgeschossen worden sein sollen, nichts gebracht. Und wenn palästinensische Zivilisten dabei ums Leben kommen, wie bei dem Einsatz in Beit Hanun im November, bei dem 18 Menschen starben, ist die Empörung in der Welt enorm, auch wenn die israelische Regierung sich jedes Mal entschuldigt, wenn Zivilisten zu Schaden kommen. Die Empörung hält sich hingegen in engen Grenzen, wenn auf der anderen Seite die Terroristen von der Hamas und dem Islamischen Jihad Raketen auf Zivilisten und zivile Ziele feuern. Doch dass mit solchen Militäreinsätzen die Lage nicht unter Kontrolle gebracht werden kann, ist den Bewohnern von Sderot längst klar.

Etwas außerhalb der Stadt liegt das Sapir College, eine Universität am Rand der Wüste. Man hat sie deshalb so nahe an den Gaza-Streifen gebaut, weil man eine Ko­operation mit den Palästinensern plante. Doch genau an jenem Tag im Herbst 2000, als eine gemeinsame Konferenz über die künftige Zusammenarbeit stattfinden sollte, brach die zweite Intifada aus. Der Dialog war beendet.

Dennoch wird das Sapir College weiter ausgebaut. 8 000 Schüler und Studenten lernen hier, davon 4 500 im akademischen Bereich. Die anderen machen eine Aus- oder Weiterbildung, besuchen Hebräisch-Kurse oder werden im »prä-akademischen Bereich« auf das Studium vorbereitet. Der Campus ist groß und hat viele Grünflächen, die Gebäude sind sehr modern. Unterrichtet werden unter anderem Soziologie, Philosophie, Management und Marketing. Und es gibt eine Filmhochschule, wo künftige Regisseure, Kameraleute, Drehbuchautoren, Animations-Designer und Tontechniker ausgebildet werden. In der Schule ist ein Filmarchiv, Studios, Schneideräume, eben alles, was man zum Filmemachen braucht. Einige preisgekrönte Filme sind hier bereits entstanden, etwa »Mirror« von Orly Melesa, »Sisai« von David Gvro und »Saba« von Amram Yakoby.

Ebenfalls auf dem Campus befinden sich eine Seniorentagesstätte und ein Kindergarten, beides wird von Leuten aus Sderot und anderen umliegenden Dörfern und Kibbuzim genutzt. Auch die im Bau befindliche Bibliothek soll nicht nur den Studierenden offen stehen. Viele Studenten haben, wie man in Deutsch­land sagen würde, einen Migra­tionshintergrund. Sie stammen aus der ehemaligen Sowjetunion, Äthiopien oder Südamerika, es gibt auch viele Araber, Drusen und Beduinen unter ihnen.

Manche Beduinen-Mädchen erscheinen vollständig verschleiert zum Unterricht, erzählt Ruth Eitan. Das sei völlig in Ordnung und werde toleriert. Jeder könne so kommen, wie er wolle, und bisher funktioniere das ausgezeichnet. Viele Studenten stammen aus Kibbuzim im Süden des Landes. Auch orthodoxe Juden studieren hier. Interkulturelle Probleme gebe es keine, betont die Dozentin. Im Gegenteil, auf den kulturellen Austausch und auf die offene Atmosphäre werde viel Wert gelegt. Schließlich bilden sie auch die Grundlage für das »Cinema South«, das hier entwickelt werden soll: Filme, die den Blick auf die Marginalisierten werfen, auf Themen wie Identität und Integration.

Auf dem Campus befindet sich auch ein psychologisches Beratungszentrum, das vor allem von den Bewohnern Sderots genutzt wird. Denn psychischen Stress bringt die ständige Alarmbereitschaft trotz aller scheinbaren Gewöhnung doch mit sich. Einer aktuellen Studie zufolge leidet ein Drittel der Bevölkerung an post­trau­ma­tischen Störungen. Die Studie spricht von »akutem Schock«, dem die Bewohner ausgesetzt seien, wenn sie jedes kleine Anzeichen einer Gefahr als lebensgefährlich interpretieren müssen – unabhängig davon, ob die Gefahr jeweils wirklich gegeben ist oder nicht.

Auch an den Studenten im Sapir College geht der psychische Stress nicht spurlos vorüber, auch wenn das augenscheinlich nicht so wirkt, wenn man sieht, wie die jungen Leute hier auf dem Campus entspannt auf dem Rasen beisammen sitzen oder in einer der verschiedenen Caféterien lachen, flirten oder lesen. Manchmal gehe mehrmals in der Nacht der Alarm los, sagt Ruth Eitan, an Schlafen sei da nicht zu denken. Das lasse niemanden kalt.

Etwa 100 Raketen sind in den vergangenen sechs Jahren auf dem Gelände der Universität eingeschlagen, allerdings nur drei davon in Gebäuden, und nur einmal wurde jemand schwer verletzt, als eine Rakete den Kindergarten traf. Man bemüht sich, die Schäden möglichst schnell zu beheben. Ruth Eitan zeigt auf ein Gebäude, das getroffen wurde. Das passierte allerdings in den Semesterferien, so dass es kaum ein Student mitbekam. Bis zum Semesterbeginn sei alles wieder repariert gewesen, man wolle die Studenten nicht zusätzlich beunruhigen. Nur an einer Stelle wird an einen Raketeneinschlag erinnert. In einem Gebäude ist im zweiten Stock in der Galerie eine Kupferplatte in den Boden eingelassen, die an den Angriff im Jahr 2003 erinnert. Damals war eine Qassam durchs Dach und das dritte Stock­werk des gerade fertig gestellten Hauses geschlagen. Zum Glück wurde niemand verletzt.

Eckart Sußenburger aus Trier weiß, wie es sich unter solchen Bedingungen studiert. Er war der erste und bisher einzige Student der Fachhochschule Trier, der ein Auslandssemester in Sderot absolviert hat. Gerade ist er nach Hause zurückgekehrt. Seit dem Jahr 2005 besteht eine Partnerschaft zwischen den beiden Hochschulen. Während Ruth Eitan schon in Trier zu Besuch war, hat von der FH Trier bisher niemand vorbeigeschaut. Eckart muss nun also nicht nur seinen Kommilitonen, sondern auch der Hochschulleitung erzählen, wie es in Sderot ist. Er glaubt, dass sich viele Studenten wegen der Lage der Hochschule gegen ein Aus­landssemester in Sderot entscheiden.

Ihm aber hat es gut gefallen, und Angst habe er keine gehabt, erzählt er. Immerhin hat es in den fünf Monaten, die er am College und in seiner Unterkunft, einem Bungalow in einem nahe gelegenen Kibbuz, verbracht hat, zwei Tote und mehrere Schwerverletzte in Sderot gegeben. Am 15. Novem­ber wurde eine 57jährige Frau getötet, als eine Rakete ein Wohngebiet traf. Das Opfer hieß Fatima Slutzker, eine arbeitslose Muslimin, die vor drei Jahren mit ihrem jüdischen Ehemann aus dem Kaukasus eingewandert war. Ein 24jäh­riger Mann verlor bei demselben Angriff beide Beine. Bei einem weiteren Angriff am selben Tag wurde ein 17jähriger Jugendlicher schwer verletzt. Sechs Tage später forderte der Beschuss ein weiteres Todesopfer. Eine Rakete schlug in eine Fabrik ein, direkt neben dem 45jährigen Arbeiter Jakob Jakovov.

Die meisten Verletzungen kämen durch platzende Fensterscheiben zustande, berichtet Eckart, weshalb sich bei Alarm manche Anwohner mit dem Gesicht zur Wand drehten. Denn das mit dem radargesteuerten Frühwarnsystem ist so eine Sache. Fast täglich ertönen die Sirenen; nach dem Alarm verbleiben jedoch nur zehn Sekunden bis zum Raketeneinschlag, viel zu wenig Zeit also, sich wirksam zu schützen oder gar in einen Schutzraum zu eilen.

Die meisten Studenten blickten, wenn der Alarm losgeht, nur kurz zum Himmel und unterbrächen ihre Gespräche oder verstumm­ten im Unterricht, bis sie die Detonation gehört haben, dann gehe alles weiter. Eckart hat in seiner Zeit keinen Einschlag selbst gesehen. Gehört aber hat er die meisten. Hass auf die Palästinenser habe er nicht verspürt. Er sagt, dass sie es schließlich auch nicht leicht hätten im Gaza-Streifen.

Von Hass ist auch bei Ruth Eitan nichts zu spüren. Obwohl sie wieder unter permanentem Terror lebt und zugleich im Norden Israels, wo sie aufgewachsen ist, in den vergangenen Jahren regelmäßig die Katjuschas der Hizbollah einschlugen .

Zusammen fahren wir an die Grenze zum Gaza-Streifen. Mit dem Auto sind es nur fünf Minuten. Außer uns ist niemand unterwegs. An einem israelischen Wachposten auf einem Hügel halten wir an. Ein Hand voll Soldaten ist dort postiert, um die Grenze im Blick zu behalten. Sie besteht aus einem nicht besonders imposanten Zaun und einem Weg, auf dem Militärjeeps patrouillieren. Dahinter erkennt man, gar nicht weit entfernt, die Häuser von Gaza-Stadt. Davor, auf der anderen Seite des Zauns, sind ein paar Ruinen zu sehen. Dort befand sich bis zum israelischen Rückzug eine jüdische Siedlung.

Über allem schwebt in großer Höhe der Zeppelin. Ich frage Ruth Eitan, ob sie Angst habe. Sie überlegt kurz. Manchmal, sagt sie, wenn es schon mor­gens einen Alarm gab, überlege sie sich, ob sie mit ihrem Auto an einer roten Ampel anhalten oder lieber doch durchfahren solle. An diesem Tag scheinen wir Glück zu haben, denn die Palästinenser liefern sich in Gaza-Stadt untereinander Straßenschlachten. Es klingt sonderbar, aber für die Menschen von Sderot bedeutet dies vielleicht, dass es ruhig bleiben könnte.

Fast direkt am Grenzzaun liegen zwei Kibbuzim, in denen auch Studenten aus dem Sapir College untergebracht sind, in vier weiteren Kibbuzim in der Gegend leben ebenfalls Studenten. Darunter seien auch ein argentinisches und ein brasilianisches Kibbuz, sagt Ruth Eitan. Anders als man erwarten könnte, hätten die beiden jedoch kaum etwas gemein und würden auch nicht besonders kooperieren. »Bei der WM hättest du die mal erleben sollen«, meint sie lachend. Ja, das kann ich mir lebhaft vorstellen.

Hinter dem Sapir College liege übrigens auch die Farm von Ariel Sharon. Das sei sicher anfangs auch ein Grund gewesen, warum die Palästinenser vor allem in diese Richtung gezielt hätten mit ihren selbstgebastelten Qassams, die vor sechs Jahren noch sehr viel unpräziser waren und weit weniger Reich­weite und Sprengkraft besaßen als heute. Ein weiterer Politiker hat seinen Wohnort in Sderot, Verteidigungsminister Amir Peretz. Von ihm sind viele Menschen hier sehr enttäuscht, weil er die Angriffe auf seine eigene Heimatstadt nicht in den Griff bekommt. Seine Frau arbeitet am Sapir College und betreut dort den »prä-akademischen Bereich«. Einmal wurde das Haus der Familie von einer Qassam getroffen und ein Leibwächter schwer verletzt.

Wir besichtigen an der Grenze noch zwei angenehm unmartialische Gedenk­stellen für getötete israelische Soldaten, dann hören wir etwas, das wie Schüsse klingt. »Ich habe kein so gutes Gefühl, lass uns lieber fahren«, sagt Ruth Eitan. Als ich mich auf den Rückweg nach Tel Aviv mache, sehe ich im Rückspiegel den Zeppelin. Er wird dort wohl noch lange seinen Dienst tun müssen.

In der Nacht zum 7. Februar, dem Tag, an dem sich die Führer der Hamas und der Fatah in Mekka trafen, wurden fünf Qassam-Raketen aus dem Gaza-Streifen auf Israel abgeschossen, in den Tagen danach folgten 13 weitere. In den ersten Wochen des Jahres, als die innerpalästinensischen Auseinandersetzungen tobten, waren es insgesamt nur neun Raketen.