Leben und Tod

So war die 57. Berlinale. Kurzkritiken zu »Bordertown«, »Bei Einbruch der Dunkelheit«, »Haus der Lerchen«, »Away from her«, »Zwei Tage in Paris« und vielen anderen Filmen

Arm und Reich

Seit Jahrzehnten gilt die Berlinale als politisches Filmfestival und weniger als glamouröses Ereignis. Auch in diesem Jahr beschäftigte sich in allen Sektionen eine Vielzahl von Filmen mit den gegenwärtigen Problemen der Welt, auch wenn sich subtile Gesellschaftskritik und hohe Filmkunst nur selten zu einer perfekten Symbiose vereinen. In der unheilvollen Kategorie »Gut gemeint, aber schlecht gemacht« belegt Gregory Navas mit dem Wett­bewerbsbeitrag »Bordertown« einen Spitzenplatz. Hintergrund des Filmes ist die seit 1993 andauernde und immer noch unaufgeklärte Mordserie an Fabrikarbeiterinnen im mexika­nischen Ciudad Juarez. Dort, nahe der Gren­ze zu den USA, haben sich nach dem Inkrafttreten des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens zahlreiche Unternehmen angesiedelt, in denen Zehntausende Menschen für Hungerlöhne von umgerechnet knapp fünf Euro pro Tag schuften.

Der Popstar Jennifer Lopez spielt in dem Thriller mit melodramatischem Touch die stets gut frisierte Investigativ-Jounalistin Lauren, die von ihrer Zeitung nach Mexiko geschickt wird, um von der Mordserie zu berichten. Schnell stellt sie fest, dass weder die Politiker noch die Polizei großes Interesse an der Aufklärung der Mordfälle haben, und beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Die unsterbliche Frage einer britischen Boulevardzeitung anlässlich der hölzernen Darbietung von Jerry Hall in irgendeinem B-Movie – »Wo hast du schauspielern gelernt? Ikea?« – hätte auch J-Lo gestellt werden können, zusätzlich sorgten die kitschigen und pathetischen Dialoge bei der Pressevorführung für Hohngelächter und Buhrufe. Am Tag vor der Weltpremiere war die Sän­gerin von Amnesty international für ihr humanitäres Engagement geadelt worden. Ihr bei diesem Film vorzuwerfen, sie würde die Morde nur als pitorreske Elendsbühne für ein weiteres ihrer berüchtig­ten Filmdesaster missbrauchen, wäre sicherlich unfair. Trotzdem stellt sich die Frage, ob dieses unbedarfte Mach­werk dem wichtigen Anliegen längerfristig nicht mehr schadet als nützt. Aufgeschreckt durch die scharfe Kritik an dem Film, betonte Berlinale-Chef Dieter Kosslick bei einer Preisverleihung mit geradezu missionarischer Inbrunst: »Wenn durch die Berichterstattung zu diesem Film ein Mensch weniger an der mexikanischen Grenze getötet wird, dann hätte ich diesen Film auch gezeigt, wenn Antonio Ban­deras einfach nur mit J-Lo redet und man sonst nichts auf der Leinwand sieht.«

Dass man politisch wichtige Themen wie Ehrenmord und männliche Gewalt auch spannend und eindringlich schildern kann, zeigte der schwedische Panorama-Beitrag »Bei Einbruch der Dunkelheit« (Nar mörkret faller) von Anders Nilsson. Erzählt werden parallell die auf wahren Begebenheiten beruhenden Geschichten dreier Menschen, deren Leben bedroht ist. Die Journalistin Carina wird von ihrem auf ihren beruflichen Erfolg eifersüchtigen Mann misshandelt, der Nachtklubbesitzer Aram von Kriminellen bedroht, damit er in einem Pro­zess nicht gegen sie aussagt. Und die Schwester der Migrantin Leyla wird von der Familie umgebracht, weil sie Kontakt zu einem jungen Mann und damit gegen den Ehren­kodex verstoßen hat.

Jede dieser Bedrohungen bleibt von dem jeweiligen Umfeld unbemerkt, die Opfer sind auf sich allein gestellt. Leylas Schwester wird von der Familie gezwun­gen, sich auf einer norddeutschen Autobahn überfahren zu lassen. Ein, so fand die schwe­dische Polizei heraus, durchaus übliches Vorgehen, da deutsche wie ausländische Behörden in solchen Fällen davon ausgehen, dass der jeweils andere sich um einen etwaigen kriminellen Hintergrund kümmert, und die Mörder meistens davonkommen.

Das verbindende Element aller drei Fälle offenbart sich erst am Ende des Films: Carina, Aram und Leyla haben die ausgeübte Gewalt nicht hingenommen. Ein Happy End gab es nur für Carina, die anderen beiden mussten als Folge ihr Leben radikal umstellen, denn am übertriebenen Ehrbegriff ihrer Peiniger und deren Anhang änderte auch de­ren Verurteilung nichts.

Nicht ganz so spektakulär, aber in den Auswirkungen für den Einzelnen potenziell genauso verheerend, ist der fortschreitende Sozialabbau. Gleich zwei Filme beschäftigten sich mit dem Problem, Geld für eine lebensrettende Operation aufzutreiben, der britische Wettbewerbsbeitrag »Irina Palm« und der Forumfilm »Klopka« (Serbien). Die Lösungen sind unterschiedlich, hier Prostitution, dort Mord. Die treusorgende Oma Maggie wird zur Sex-Hostess Irina Palm, um die OP ihres Enkels bezahlen zu können. Marianne Faithfull brilliert in dieser rührselig-humorvollen Geschichte mit subtiler Mimik derart als Darstellerin, dass sie eigent­lich als Bären-Favoritin galt.

Im Neo-Noir »Klopka« (Die Falle) zeichnet der Regisseur Srdan Golubovic dagegen ein düsteres Bild seines Herkunftslandes, in dem der Ausnahme- längst zum Dauerzustand geworden ist, einem »Serbien nach Milosevic, wo es keinen Krieg mehr gibt, aber eine moralische und existenzielle Wüste«. Der arbeitslose Ingenieur Mladen benötigt 30 000 Euro, um seinem todkran­ken Sohn die lebensrettende Operation zu ermöglichen. Verzweifelt geben er und seine Frau eine Zeitungsannonce auf, woraufhin ihm angeboten wird, einen Mafioso umzubringen.

Politische Konzepte gegen Armut und Elend fehlen allerdings. Die dänische Satire »How to get rid of people« (Filmmarkt) zeigt einen Ausweg: Nach­dem eine sozialdemokratische Politikerin aufgelistet hatte, welche Personen und welche Verhaltensweisen als gesellschaftlich unnütz bewertet werden sollten, wurde aus dem Memo ruck­zuck ein Gesetz. Und aus dem abgehängten Prekariat am Ende des Films das aufgehängte.

elke wittich, axel grumbach

Liebe und Hass

Der Holocaust, Ruanda, die Balkankriege – historische Vergleiche wurden bei der Premiere des Melodrams »Das Haus der Lerchen« über den arme­nischen Genozid viele bemüht. Denn Tränen reichten nicht, betonten die Darsteller und die Regisseure Paolo und Vittorio Taviani während der anschließenden Diskussion mit einem verweinten Publikum immer wieder. Es gehe auch um die Gegenwärtigkeit des Themas Völkermord. Nur der deut­sche Moritz Bleibtreu, der die türkische Hauptfigur spielt, tanzte mit seiner Interpretation aus der Reihe. »Für mich ist es ein Film über Menschlichkeit und Liebe.« Eine erstaunliche Aus­sage zwar über einen Film, der die plan­mäßige Ermordung von rund einer Million Menschen thematisiert, und doch trifft sie die Sache ziemlich gut.

Basierend auf dem Roman der armenischstämmigen Autorin Antonia Arslan, wird die Geschichte einer reichen armenischen Großfamilie in Anato­lien erzählt. 1915, die Türkei ist im Krieg mit Russland, spitzt sich die Lage für die Familie Avakian zu. Im russisch-türkischen Konflikt im Kaukasus kämpft eine Minderheit der Armenier auf russischer Seite. Die türkische Propaganda verbreitet Gräuelmärchen und schürt den Hass gegen die Armenier. Der Alltag der Familie ändert sich schlag­artig, wenn auch nicht dramatisch. Türkisches Personal weigert sich, für die Avakians zu arbeiten; türkische Honoratorien bleiben einem Fest der Familie fern; die gerade beginnende völkerverbindende Romanze zwischen einem türkischen Offizier (Alessandro Preziosi) und Nanuk, der schönen Tochter des Hau­ses (Paz Vega), droht an den politischen Entwicklungen zu scheitern.

Der Offizier kennt die Vernichtungspläne seiner Regierung und weiß um die Gefahr für Nanuk und ihre Familie. Der Fluchtplan des Liebespaars wird vereitelt, die beiden werden einander nie wiedersehen. Als die Pogrome einsetzen, ist er längst versetzt worden. Nanuk wird mit den anderen Frauen und Mädchen auf den berüchtigten Todesmarsch geschickt; die Männer und Jungen der Familie sind gleich in ihrem Haus ermordet worden.

Es ist ein staatlicher Plan zur Beseitigung der Arme­nier, und nicht wenige der damit beauftragten Solda­ten führen ihn in diesem Film voller Skrupel aus oder versuchen sogar, ihn zu hintertreiben. Youssuf (Moritz Bleibtreu) ist gleich der zweite türkische Soldat in dieser Geschichte, der alles daran setzt, das armenische Mädchen Nanuk zu retten. Eigentlich ist das Mädchen seine Beute, ein Körper, den er vergewaltigen wird. Als man Nanuk dann nackt in sein Zelt schleppt, verliebt er sich in sie und träumt von der gemeinsamen Flucht und einer wunderbaren Zukunft. Es kommt anders. Am Ende wird er sie töten, nur um ihr die Folter zu ersparen.

Das Völkermord-Epos der Taviani-Brüder ist ein überraschend konventioneller, nach allen Regeln des europäischen Erzählkinos gemachter Film geworden, dessen auffälligstes Stilmittel die plastische Grausamkeit der Tötungsszenen ist. Es sind zwar nur wenige Szenen, in denen gemordet wird. Die sind dafür aber umso brutaler. Die Kamera schwenkt nicht über anonyme tote Armenier hinweg, sondern vergegenwärtigt den Massenmord als die Qual der vielen Einzelnen, die erschossen, massakriert oder enthauptet wurden. Von ihrem Regie-Ideal, eine Begegebenheit so präzise wie möglich zu schildern, rücken die Tavianis auch dann nicht ab, wenn das Köpfen des Familienvaters im Beisein seiner Gattin im Drehbuch steht.

Der Film argumentiert nicht ohne Pathos vor allem mit dem individuellen Schmerz der Opfer, über die die Katastrophe unvorbereitet hereinbricht, vermeidet es aber geradezu, die Grausamkeit der Täter zu benennen. Man würde jedoch falsch liegen, darin eine Konzession an die Politik der Leugnung und Beschwichtigung seitens der Türkei zu sehen. Eher folgen die Tavianis ihrem unerschütterlichen politischen Ideal, selbst noch in ihren dunkelsten Filmen Perspektiven und Lösungen anzudeuten und die Men­schlichkeit hochzuhalten. Entstanden ist ein emotionaler Film, der allerdings auf jede Radikalität verzichtet.

heike runge

Gut und schlecht

Den Filmkritikern geht’s nicht gut zurzeit – die Filmindustrie schimpft über ihr defätistisches Gehabe, die Zeitungen drucken lieber Anzeigen als Gemoser!

Beides ist verständlich – jetzt hier die dritte Position: Die Kritiker haben auch so schon eine Menge auszuhalten.

Nicht immer gut ging es ihnen dieses Jahr im Pano­rama. Diese Berlinale-Sektion legt den Schwerpunkt auf Independent- und Arthouse-Kino, über das sich ein Stück weiter, beim Berlinale Talent Campus, die Godmother des Independentfilms, John Waters, mokierte.

Traditionell ist im Panorama die Suche nach Identität angesiedelt, gern reduziert aufs Sexuelle, in einer großen Zahl von Filmen mit schwullesbischem Kontext.

Wie in »The Bubble« (Israel 2006). Regisseur Eytan Fox lässt seinen schwulen Protagonisten, Reservist der israelischen Armee, einen jungen schwulen Palästinenser lieben, dessen Familie an der Hamas erkrankt ist. Am Ende geht die Suizid-Bombe hoch.

Der israelische Schwule und der palästinensische – Dutzendware. Filme wie dieser tauchen dermaßen regelmäßig auf, dass man sich kaum vorstellen kann, in Israel würden noch andere Filme produziert. Obwohl: Liegt die Lösung des Nahost-Konflikts in der Homosexualität? Das hat doch was.

Wo man mit der Identitätsfindung nicht weiterkommt, da herrscht Stillstand. Meis­terhaft vorgeführt in »Lady Chatterley« (F/B 2006) von Pascale Ferran. Das schöne Buch von D.H. Lawrence erfährt hier seine etwas langatmige Kinoadaption. Eine dreistündige Standfotografie. Eine Lagerung im Filmmuseum ist angeraten, Abteilung 19. Jahrhundert.

Wer dachte, das sei nicht mehr zu übertreffen, wurde in Thomas Arslans nervenaufreibendem Beitrag »Ferien« (D 2006) eines Besseren belehrt. Hier ist eine ganze Familie auf der Suche nach sich selbst. Zwi­schen den Stillleben mit Graslandschaft im Berliner Umland versuchen die Darsteller vergeblich, ihren Figuren irgendetwas ein­zuhauchen – ein Knochenjob: Denen geht’s optisch ganz klar elend. Pause. Graslandschaft.

Manchmal gereicht dieses Verfahren zur Illustra­tion von Trostlosigkeit, oft nicht. Ein schöner Film übers Paar-Sein ist »Zwei Tage in Paris« (F 2006) von Julie Delpy. Nicht die Bilder sind das Wichtigste, sondern der geschliffene Schlagabtausch zwischen zwei Liebenden steht im Zentrum. Man kann aber auch alles zerreden: Mit fortschreitendem Film zerfällt auch die Beziehung immer mehr – Mist. Zwei so liebe Menschen.

»Getting Home« (China 2006) ist auch Beziehungskiste – zwischen einem abgerackerten Arbeiter und seinem besten Freund, der bei einem Besäufnis stirbt. Zhao hat versprochen, ihn zur Familie zu bringen.

Welche Transportmittel für eine Leiche infrage kommen und mit welchen Übeln China derzeit ringt, zeigt diese morbide Durchquerung der Volksrepublik sehr schön. Nur so viel: Räuber und Polizisten gehören nicht zum Schlimmsten.

»Riparo« (I/F 2006) zeigt, was das leidliche Identi­tätskino wirklich leisten kann: Zwei Lesben aus dem italienischen Norden, eine Firmenerbin, die andere in dieser Firma Bandarbeiterin, werden im Urlaub Opfer von Schleppern. Zuhause angekommen, stellen sie fest, dass sie einen tunesischen Jugendlichen im Auto haben.

Der stellt nicht nur kritische Fragen zum westlichen Gendertum. Das ist erst der Anfang. Denn nachdem die beiden sein Leben durcheinandergeschmissen haben, bleibt kein Stein mehr auf dem anderen. Tortur de force. Ein Film über Mann und Frau, Frau und Frau, reich oder arm, Norden oder Süden, Leben oder Tod. Alle Ebenen perfekt inein­andergewoben.

Beeindruckend gibt sich Erkan Can in »Takva«: Er spielt den Gottsucher Muharrem, der auf dem Weg zur Seligkeit als Mieteintreiber im Dienste eines muslimischen Ordens strandet. Handy, Dienstwagen und Computer bekommen dem Seelenheil nicht – dieser Film über religiösen Radikalismus und seine schnöde ökomische Seite war einer der kontroversesten Panorama-Beiträge. Und wegen seiner Bildsprache und Zielrichtung erhielt er den Preis der internationalen Fimkritik.

Gelungen ist auch »Away from her« von Sarah Polley. Erstens: Hier wird nicht angegeben. Zweitens: Es gibt ein Drehbuch. Drittens: gut fotografiert. Viertens: spannend. Fünftens: per­fekt gespielt. Und: hartes Thema – Altenpflege.

Sarah Polley, 27 Jahre alt, weiß, was sie ihren Figuren schuldig ist. Die lebenslang verheirateten Fiona (Julie Christie) und Grant (Gordon Pinsent) müssen feststellen, dass Fiona Alzheimer hat. Schubladen haben jetzt Inhaltsangaben – aber wer ist der Mann da?

Fiona beschließt, ins Heim zu gehen. Eine der Regeln dort ist, dass die Patienten in den ersten 30 Tagen ihres Aufenthalts keinen Besuch empfangen dürfen – sie sollen sich ungestört einleben können. Prompt fängt Fiona eine Affäre an mit einem Mann, der noch schlechter dran ist. Julie Christie und Gordon Pinsent spielen an der Grenze zum 70. Lebensjahr um ihr Leben. Hier kann Selbstfindung ihren Platz haben: Von alten Identitäten muss Abschied genommen werden.

Grant wird gesagt, er könne bei der Erkrankung seiner Frau nie wissen, was am nächsten Tag passiert. Wir wissen es auch nicht und sitzen festgeschraubt im Kinosessel. Vor Aufregung ist das Popcorn nach zehn Minuten alle, die große Portion.

Nicht zu wissen, was gleich passiert, das ist suspense. Wegen der geht man ins Kino. Und wegen der laufen manchmal viele Durchschnitts­filme und ein guter.

jürgen kiontke

Die 57. Berlinale. Der chinesische Film »Tuyas Ehe« bekam den Goldenen Bären. Ein Silberner Bär ging an das Ensemble des »Guten Hirten« von Robert De Niro. Der Regisseur Joseph Cedar erhielt einen Silbernen Bären für »Beaufort«. Der Publikumsfavorit »Irina Palm« mit Marianne Faithfull (Bild) ging leer aus.