Ein Lied für El Chapo

Die großen Drogenhändler Mexikos sind gesellschaftlich integriert. Die staatliche Repression ist meist Teil des Konkurrenzkampfs der Kartelle. von wolf-dieter vogel, mexiko-stadt

Sie sorgen für geteerte Straßen, finanzieren Kindergärten und kümmern sich um die örtliche Trinkwasserversorgung. Ihre Söhne schlafen mit den schönsten Mädchen des Dorfes, und sollten die Brüste der »Chicas« zu klein sein, helfen die »Narcos« auch mal mit ein paar Scheinen für die Schönheitsopera­tion aus. Me­xikos Drogenbosse sind keine Out­sider, die sich nur in kriminellen Unterwelten verstecken. Auch wenn sich einige von ihnen ständig auf der Flucht befinden, leben die großen Familien der Branche mitten in der Gesellschaft und prägen sie nicht unerheblich.

Und das nicht nur in traditionellen Hochburgen wie dem nordwestlichen Bundesstaat Sinaloa, wo ganze Dörfer Amado Carillo Fuentes die letzte Ehre erwiesen, nachdem der als »Herr der Lüfte« bekannte Drogenhändler 1997 verstorben war. Längst sind die Narcos fast überall präsent. Etwa im Gebirgszug Sierra Madre, der sich vom Zentrum entlang der Pazifikküste bis ins südliche Oaxaca zieht. Dort werden große Teile des Ma­rihuanas und Heroins pro­duziert, das die US-Ame­rikaner konsumieren. Selbst das zapatistische Chiapas bleibt nicht verschont, im Lakandonischen Regenwald haben die indigenen Rebellen damit zu kämpfen, dass der Drogenanbau erheblich zunimmt.

Wo die Produktion von Mais oder Bohnen durch Billigimporte aus dem Norden immer unattraktiver wird, lassen sich Bauern gerne vom lukrativen Anbau von Schlafmohn oder Cannabis überzeugen. Wer sich trotzdem weigert, ist der Brutalität der Narcos ausgesetzt. Oder den traditionellen Strukturen, in die örtliche Dorffürsten, Polizisten, Politiker und Mafia eingebunden sind. Dieses Geflecht aus Repression, Korruption und Gefolgschaft hat sich in der 71jährigen Regierungszeit der Partei der Institutionellen Revolution (Pri) entwickelt und prägt den Alltag in vielen ländlichen Gegenden Mexikos bis heute.

Will Präsident Felipe Calderón nun militärisch eine soziale Struktur zerschlagen, wenn er dem Drogenhandel den Krieg ansagt? Kaum im Amt, schickte der Politiker der konservativen Partei der Nationalen Aktion (Pan) im Dezember 8 000 Soldaten in den Bundesstaat Michoacán. Kurz darauf wurden Armeekontingente an die Grenze zu den USA entsandt, und im Großraum Aca­pulco vernichten seit Februar 7 600 Militärs Cannabisfelder und führen Straßenkontrollen durch. Zudem lieferte die Regierung mehrere Größen der Branche an die USA aus. So zum Beispiel den Chef des Golfkartells, Osiel Cárdenas, und einen wichtigen Vertreter des flüchtigen Drogenbosses Joaquín »El Chapo« Guzman.

Ähnlich energisch hatte schon Calderóns Vorgänger und Parteifreund Vicente Fox seine Amtszeit begonnen. Schnell meldete er die Verhaftung einiger Capos des Tijuana-Kartells und die Beschlagnahmung mehrerer Tonnen illegaler Drogen. Dennoch fiel seine Bilanz nach sechsjähriger Präsidentschaft desaströs aus. Mexiko ist zum zweitwichtigsten Heroinlieferanten der USA avan­ciert und bleibt die bedeutendste Durchgangs­sta­tion für Kokain aus Kolumbien. Allein im vergangenen Jahr fielen über 2 000 Menschen dem Drogenkrieg zum Opfer. Diese Entwicklung setzte sich nach Calderóns Amts­übernahme fort. Die Kartelle reagieren mit brutalen Vergeltungsschlägen auf die Militäreinsätze: Polizisten werden mit Eispickeln ermordet, abgeschlagene Köpfe von Opfern werden auf Stäbe aufgespießt und in Videos zur Schau gestellt.

Doch nicht alle der bislang 600 Morde dieses Jahres sind Reaktionen auf die staatlichen Angriffe. Die Großen des Geschäfts führen untereinander einen Verteilungskrieg. So liefert sich die für das Golfkartell agierende paramilitärische Gruppe »Zeta« heftige Auseinandersetzungen mit den Killertruppen von Guzmán. An »seine Feinde, die Zetas« richtete »El Chapo« jüngst einen Film, der über den Internetservice YouTube abgerufen werden konnte. Das Video zeigt, wie ein Mitglied der gegnerischen Bande hingerichtet wird. Musikalisch unterlegt ist die Darstellung mit »Narcocorridos«, populären Liedern aus dem mexikanischen Norden, in denen den jeweiligen Capos gehuldigt wird.

Bei diesem Krieg geht es auch um die Kon­trolle des US-Marktes. Schließlich werden jenseits des Rio Bravo allein mit Kokain jähr­lich mindestens 100 Milliarden Dollar umgesetzt. Nach Schätzungen des Weißen Hau­ses fließen etwa 90 Prozent dieses Geldes ins US-amerikanische Finanzsystem und be­leben die Wirtschaft des Landes. Drogen­geld gilt als schnell mobilisierbar für eilige Transaktionen.

Auch auf der anderen Seite der Grenze gibt es gute Gründe, auf einen prosperierenden Drogenmarkt zu hoffen. Bereits während der Finanzkrise der achtziger Jahre soll das gewaschene Geld aus Mexiko und Kolumbien erheblich für Linderung gesorgt haben. Derzeit ist der Verkauf von Marihuana und Heroin die wichtigste Devisenquelle des Landes.

Zudem übernehmen die Narcos oft Aufgaben, die von den Regierenden nicht bewältigt werden: Sie schaffen Arbeitsplätze, investieren in Unternehmen und kümmern sich darum, dass Schulen gebaut werden. Sie sorgen für Stabilität, während staatliche Stellen entweder das Feld geräumt haben oder ihre Funktionäre – Polizeichefs, Militärs, Politiker – in die illegale Struktur eingebunden sind. Als Bundestruppen im vergangenen Jahr bei einem Anti­dro­gen­einsatz die Polizei der Grenzstadt Nuevo Laredo überprüfen wollten, wurden sie von den örtlichen Beamten beschossen.

Solche Seilschaften haben eine lange Tradition. Mit Hilfe einer mexikanischen Polizeispezialeinheit wurde in den achtziger Jahren ein Agent der US-amerikanischen Antidrogenbehörde DEA ermordet, und der Pri-Präsident Carlos Salinas verteilte zwischen 1988 und 1994 zentrale Posten in Militär und Politik an Leute aus dem Drogengeschäft. General Jesús Gutiérrez Rebollo wurde 1996 zum Chef der Nationalen Antidrogenbehörde ernannt. Er ging mit harter Hand vor – zumindest gegen das Tijuana-Kartell. Nach wenigen Monaten stellte sich heraus, dass Rebollo dies im Auftrag des »Herrn der Lüfte« tat, um dessen Geg­ner auszuschalten.

Die von Calderón angeordeten spektakulären Militäreinsätze sagen wenig über seine Intentionen aus. »Bisher gab es keinen Fall, in dem die Armee die Drogenmafia besiegt hätte. Das ist noch nicht einmal der US-amerikanischen Armee in Afghanistan bei der Opiumproduktion gelungen«, erklärt der mexikanische Historiker Lorenzo Meyer. Das weiß auch Calderón. Kurz nach seinem Amtsantritt hat er den Sold seiner Soldaten erheblich erhöht und gegenüber der linken Opposition klargestellt, dass er mit harter Hand regieren werde. Die martialischen Armeeeinsätze untermauern das und sollen der US-Regierung Hilfsbereitschaft für deren »Krieg gegen die Drogen« andeuten.

Wollten Calderón und seine US-amerikanischen Kollegen das Geschäft tatsächlich zerschlagen, gäbe es ein einfacheres Mittel: die Legalisierung der kriminalisierten Drogen. Damit aber würde der attraktivste Markt zusammenbrechen, die soziale Struktur in der mexikanischen Provinz noch weiter erodieren und in der Folge die Migration zunehmen. Daran hat man weder diesseits noch jenseits des Rio Bravo ein Interesse.