Die Piraten von Tepito

Das Stadtviertel Tepito, im Nordosten von Mexiko-Stadt, ist der größte Markt der Welt für Produktpiraterie und gilt ­zugleich als »Mord- und Totschlagsfabrik« der mexikanischen Hauptstadt. Das ­barrio bravo soll nun stadtplanerischen Großprojekten gehorchen.

»Tepito ist heute ein Ort des Handels im Herzen der Metropole, ein Ort, an dem sich seit langer Zeit ungelöste soziale Probleme häufen. Keine Frage, hier ist das Epizentrum des urbanen Chaos. In Tepito sind alle Meister der Chaostheorie.«

Alfonso Hernández blinzelt herausfordernd. In seinem Hinterhofbüro, zwischen Lagerhallen und Werkstätten, welches das so genannte Zentrum für Tepito-Studien beherbergt, empfängt der 62jährige häufig Besucher aus aller Welt. »Lass dich nicht abschrecken von all den Schauergeschichten, die du über Tepito gehört hast«, sagt er und fügt grinsend hinzu: »Wir lieben es nun mal, den Mythos des verrufenen Viertels, des bar­rio bravo, zu pflegen.«

Die meisten urbanen Legenden über Tepito haben mit dem An- und Verkauf jeder Art von Waren zu tun. »In Tepito verkaufen wir alles, außer unse­rer Würde«, sagt man hier. »Alles«, das ist wörtlich zu nehmen: Hifi-Equipment, Schildkröteneier, Maschinengewehre, Turnschuhe, Computersoftware, antike Möbel, Handys, Gadgets made in Chi­na, Schmuck, Kochutensilien, Markenklamotten, Dienstleistungen jeglicher Art, ein reichhaltiges Sortiment an Drogen, Parfüms und edlen Spirituosen. Nicht alles wird einem direkt unter die Nase gehalten, aber wer sucht, der findet. Sagt man.

Tatsächlich ist ein erster Streifzug durch Tepito wie ein Bummel über einen riesigen Basar. Die fliegenden Händler, die einem an nahezu allen U-Bahneingängen und Plätzen von Mexiko-Stadt begegnen, um gebrannte Musik-CDs und Film-DVDs zu verkaufen, verdichten sich hier im barrio bravo zu einem mobilen Markt, der einen großen Teil der Fußwege in Beschlag nimmt. Nach Schätzungen des Interessenverbands der Film­industrie, der Motion Picture Association, ist Tepito heute der weltgrößte Markt für Produkt­piraterie, auf dem jährlich bis 40 Millionen Raub­kopien verkauft werden.

Doch solche Anschuldigungen sind zugleich wirksame Werbung. An Wochenenden kommt man auf den Straßen nur mühsam voran, lässt sich irgendwann einfach nur treiben. Man wird vorbeigeschoben an Fleischdrehspießen, bleibt eingekeilt zwischen Sackkarren stecken, auf denen bedrohlich schwankende Türme aus Flachbildschirmen transportiert werden, stolpert über auf dem Boden feilgebotene Pornofilme und rettet sich schließlich an eine lichte Straßen­ecke, wo einem Cola und Bier angeboten werden.

In den vergangenen Monaten wurde das ungestörte Shoppen in Tepito häufiger getrübt durch das Auftreten von Polizeieinheiten und Zivilfahndern, die sich unter die Käuferschar mischen, um Hehlerware und Raubkopien zu beschlagnah­men. Auf diese Weise sollen vor allem Großkunden abgeschreckt werden. Zusätzlich werden bei nächtlichen Razzien immer wieder tonnenweise CD-Roh­linge, Brenner und Etiketten für selbstveredelte Markenware abgegriffen. Aufgrund der sich häufenden Polizeieinsätze sollen die Verkäufe im Vier­tel um 80 Prozent zurückgegangen sein.

Die vecindades, die Wohnorte und sozialen Treff­punkte jenseits der Märkte von Tepito, bekommt man bei einem ersten Besuch meist kaum zu Gesicht. Außer, wenn man sich an einem Dienstag ins barrio bravo begibt. Beim Verlassen der U-Bahn­­station Lagunilla ist das Viertel kaum wiederzuerkennen. Breite Fußwege, kaum parkende Autos, kaum Verkehr, dafür einige zuvor nie bemerkte Bäume.

Eine Doppelreihe Militärpolizisten sperrt den Fußweg neben Alfonsos Büro ab. Dahinter demontieren Feuerwehrmänner und weitere Uniformierte die Überdachungen des heute verlas­senen Marktes. Nur wenige Menschen schauen sich das an, spenden hämisch Applaus. Auch Alfonso steht in der Toreinfahrt. Was soll denn dieses Polizeiaufgebot?

»Die pacos haben die Anordnung, alle fest installierten Stände zu entfernen. Halbherzige Einschüchterungsversuche!« Und der Markt? »Te­pito hat heute seinen freien Tag. Der Dienstag, das ist unser Wochenende. Hast du dich nie gefragt, wann wir hier Fußball spielen?« fragt Alfonso, während er über den Hof in sein Büro schlendert.

Tags zuvor traf sich hier eine Händler­or­ga­ni­sation. Solche Zusammenschlüsse gibt es viele hier. Sie regeln den fliegenden Handel im Viertel, vergeben Verkaufsorte, organisieren Straßenreinigung und Stromversorgung, übernehmen soziale Dienste, die eigentlich Aufgabe der Stadtverwaltung wären, und vermitteln bei Konflikten mit Behörden und der Polizei. Die Händlerorganisation finanziert auch den Chronisten Alfonso, ihren wichtigsten Informanten. Während er die weißen Plastikstühle des gestrigen Treffens beiseite räumt, erzählt er bereits wieder.

»Zwischen 1930 und 1979 verdreifachte sich das Be­völkerungswachstum in Mexiko, viele Men­schen zogen in die Städte, auch Tepito wuchs schnell.« Es gibt eine lange Tradition, alte Gebrauchsgegenstände zu recyceln, umzubauen, zu frisieren. Tepito war lange Zeit der Kleiderschrank der Armen. Und noch heute tauschen Händler in reichen Wohngegenden Schmuck und Accessoires gegen Kleidung, die sie später auf einem Wochenmarkt hier verkaufen.

Seit jeher wurden solche kommerziellen Aktivi­täten von den Regierenden als lästig beim Aufbau einer modernen Volkswirtschaft empfunden. Und dennoch sah sich der damalige mexikanische Präsident Adolfo Ruiz Cortines in den fünfziger Jahren gezwungen, eine mehr oder weniger verbindliche Regelung zu schaffen, um den Straßenverkauf und den Bau von Markthallen zu organisieren – auch in Tepito.

»In den fünfziger und sechziger Jahren erlebte der Handel in Tepito seine erste Blütezeit«, sagt Alfonso, der als Jugendlicher die einschneidenden wirtschaftlichen Veränderungen erlebte. »Ne­ben den im barrio hergestellten Waren importierten Kleinunternehmer auch zunehmend Elektronikartikel aus den USA, vieles davon war Schmuggel­ware. Und auf dem Rückweg in die Staaten transportierten die LKWs mexikanisches Marihuana«, berichtet Alfonso weiter. »Aber es verdienten vor allem die Polizei, die Politiker und der Zoll. Der Großteil der Gewinne blieb nicht im Viertel.«

Was in Tepito blieb, war dagegen der Ruf der »kriminellen Hochburg«, mit dem die Regenten und Bürgermeister der mexikanischen Hauptstadt gern gesetzliche und polizeiliche Interventionen im barrio bravo rechtfertigten. Neben einer Inszenierung von Recht und Ordnung waren solche, häufig als »Plan Tepito« bezeichnete Ak­tionen meist jedoch Versuche, höhere Schmiergelder beim Warenschmuggel zu kassieren. Seit die städtische Abgeordnetenkammer 1993 ein ge­nerelles Verbot fliegenden Handels verhängte, lässt man sich die weitere Duldung des informellen Handels mit Wählerstimmen entgelten.

Doch diese Klientelpolitik schien im vergangenen Jahr zumindest teilweise überlebt zu sein. In den nur wenige Blocks von Tepito entfernten Straßenzügen rings um den Zócalo mussten die Straßenhändler im Oktober auf Anordnung der Stadtverwaltung die Fußwege endgültig verlassen; künftig sollen sie in ehemaligen – und einzig für diesen Zweck geräumten – städtischen Altenheimen, Notunterkünften und anderen sozialen Einrichtungen ihre Waren anbieten. Einige der 15 000 Straßenverkäufer haben sich darauf eingelassen, zahlen Miete und hoffen, dass die frühe­re Laufkundschaft doch irgendwie den Weg in den fünften Stock eines ranzigen Altbaus finden wird.

Der regierende Bürgermeister von Mexiko-Stadt, Marcelo Ebrard, hat angekündigt, »das historische Zentrum von Mexiko-Stadt zurückgewinnen« zu wollen. Auch Tepito soll im kommen­den Jahr wirt­schaftlich und touristisch wieder­belebt werden. Von den konkreten Plänen erfuhren die Bewohner jedoch erst aus der Tagespresse und dem Internet­portal der Stadtverwaltung. Ein Einkaufs­zentrum, groß wie ein Häuserblock, steht dabei im Mittelpunkt des Stadtentwicklungsprogramms, das un­ter dem irrigen Namen läuft: »Tepito ist mein Bar­rio«.

Bereits im März 2007 versammelte Ebrard, der der links-zentristischen Partei der Demokratischen Revolution (PRD) angehört, einige Dutzend potenzielle Investoren, um für ihre Beteiligung am Projekt zu werben. Geht es nach dem Willen der Stadtverwaltung, sollen bereits im Fe­bruar die Arbeiten am Einkaufszentrum und weiteren Geschäftszeilen beginnen.

Derzeit rechnet man in Tepito mit dem Schlimms­ten, und die Bevölkerung wird gegen die befürchteten Räumungen von Geschäften und Vertreibungen der fliegenden Händler mobilisiert. Einen polizeilichen Frontalangriff gab es bisher noch nicht. Vielmehr übt sich die Stadtverwaltung darin, Zwietracht unter den Tepiteños zu sähen.

Esmeralda von der Anwohnerorganisation »Geeinte Bewegung des Barrios Tepito« (MUBT) berichtet von andauernden Versuchen, die lea­deres der Händlerzusammenschlüsse zu kaufen, damit diese die Politik des Rathauses legitimieren. »Gerade deshalb versuchen wir, neue Bündnisse zu knüpfen, Leute zu erreichen, die bisher kaum organisiert waren«, berichtet die Inhaberin einer kleinen Modeboutique.

Dann erzählt die Frau im Trainingsanzug von der spektakulärsten Interven­tion von MUBT. Auf dem Fußweg vor dem Lädchen »Sodabrunnen Atenas« findet ihre energische Stimme immer mehr Zuhörer. »Im April weihte die Stadtverwaltung unter großem Beifall der Medien für 2,5 Mil­lionen Pesos künstliche Strände in Mexiko-Stadt ein. Tja, und wir, die Meister im Raubkopieren, haben uns diese Idee zu Eigen gemacht«, beginnt sie ihren Bericht unter lautem Gelächter. »Als die Stadtverwaltung bei der Demontage der Über­dachungen in der Calle Aztecas auch die Asphaltdecke aufriss, blieb eine holprige Lehmpiste zurück, die Händlern und Anwohnern das Leben schwer machte. Schließlich kam ein kleiner Junge auf die Idee, die Straße in einen Strand zu verwandeln, bis sie repariert wird«, erzählt sie weiter. »Tepiplaya war geboren, ein Riesenspektakel. Wir verteilten Getränke, bauten überall aufblasbare Schwimmbecken auf.« Und das Ergebnis? »Nun, die Kinder hatten großen Spaß, die Presse machte Fotos, und die Straße war im Nu ausgebessert. Eine gelungene Aktion, und nicht die letz­te«, sagt Esmeralda.

Noch berauscht von ihrem Erfolgsbericht schlägt die Sprecherin von MUBT einen Marktbummel vor. Auch ihr Mitstreiter Victor ist dabei, trottet seiner euphorischen Freundin mit traurigen Augen hinterher. Er fürchtet, seine Wohnung und Lagerräume zu verlieren. Sein Haus wurde kürzlich verkauft. Und sein mobiler Unterwäschestand läuft schlecht. »Dabei ist ­alles feinste Importware«, versichert er. »Früher bin ich selbst nach China geflogen, doch inzwischen spare ich lieber für schlechte Zeiten, kaufe wieder hier bei den Großhändlern im Viertel, die sich die Reise nach Shanghai noch leisten können.«

»Tepito Global« titelte unlängst der Kolumnist Marco Rascón und versuchte damit, den Ruf des barrio ein wenig zu verbessern. Heutzutage diktiere kein anderer Ort wie Tepito in Lateinamerika die Preise formeller und informeller Importe über die nationalen Grenzen hinaus, schreibt er.

Dieser Umstand macht das barrio bravo gleichzeitig zu einer der wichtigsten Bastionen des informellen Arbeitsmarktes. Im großen Stil oder in Heimarbeit werden Film-DVDs, Computerspiele und andere Software gebrannt. Auch legal importierte oder geschmuggelte Kleidungsstücke und Turnschuhe aus China werden in Tepito neu etikettiert, bestätigt Esmeralda. Sie will trotzdem lieber über Raubkopien reden und nicht über ihre Modeboutique. Vor dem Stand eines befreun­deten »Brennmeisters« bleibt sie stehen, winkt ihn heran, um aus erster Hand ein bisschen mehr über das Dasein als Pirat in der Film- und Musikindustrie zu erfahren.

Ein Mann mit imposantem Schnauzbart und passendem Bauch stellt sich als Pablo Pérez vor, »Spezialist für musikalische Raritäten und populäre Musik«. Seine Kundschaft sind Großhändler aus ganz Mexiko, »doch an jeder verkauften CD verdiene ich nur ein paar Cent«, berichtet er. »Die Konkurrenz ist groß. Kein Geschäft zum Reichwerden.« Außerdem müsse man ständig auf der Hut sein vor der Polizei. »Zwei Mal schon haben sie mir meine Computer abgenommen. Die Apparate, die Rohlinge und die Master-Copies. Wir werden behandelt wie Kriminelle, dabei arbeiten wir hart für unser Geld.«

Das Treiben von Leuten wie Pablo koste jährlich Zehntausende Jobs, klagen die Musik- und die Filmbranche. Gleichzeitig entstehen im informellen Sektor Hunderttausende Arbeitsplätze – eine Entwicklung, die in der mexikanischen Medienöffentlichkeit kaum wahrgenommen wird. »Die Musikindustrie fühlt sich durch uns geschädigt«, weiß auch Pablo, »aber ein Großteil der Bevölkerung kann sich deren Produkte doch gar nicht leisten. Entweder du kaufst etwas zu essen oder Musik. Man sollte aufhören, uns Piraten zu verurteilen. Im Grunde machen wir doch eher Werbung. Denn wer in Mexiko Original-CDs kauft, kommt sowieso nicht zu uns.«

»Raubkopierer, Mord- und Totschlagsfabrik, La­byrinth der verlorenen Seelen« – der hauptstädtische Polizeichef Joel Ortega spricht von Tepito inzwischen nur noch im Tonfall eines fana­ti­schen Wiedertäufers, den unverhofft eine urbane Vision der Apokalypse ereilt hat. Doch die sicherheitspolitische Hysterie wird planmäßig verbreitet, denn es gilt, einen Konsens für das neoliberale Sanierungsprojekt »Tepito ist mein Viertel« zu schaffen. Die gewaltsamen Räumungen des So­zial­wohnungsbaus Tenochtitlán im Februar vergangenen Jahres, die nicht genehmigten Razzien, die plündernden Polizisten sind für die meisten Zeitungen und die beiden mexikanischen Fernseh-Oligopole Telvisa und TV Azteca eben un­vermeidliche Begleiterscheinungen bei der »Zurückgewinnung des öffentlichen Raums«.

»Wann gab es denn hier jemals öffentlichen Raum?« spottet Alfonso bei einer gemeinsamen Mittagspause in seiner Lieblingsbäckerei. »Die Reichen werden mit guten Investitionsbedingungen beschenkt. Doch wovon sollen die leben, die kein Kapital, kein Haus, kein Ladenlokal besit­zen?«

Für die wachsende soziale Unsicherheit im Viertel hat er eine überraschende Erklärung parat. »Während all der Jahrzehnte, in denen die Partei der Institutionellen Revolution (PRI) in Mexiko-Stadt herrschte, gab es mehr Kontrolle«, meint er ernst. »Für alles gab es Abkommen und Regelungen. Auch die Kriminalität war in Tepito eine geordnete Angelegenheit. Heute werden wir vom PRD regiert, so genannten Linken. Aber allesamt haben keinen verdammten Plan. Der PRD hat bei den Verhandlungen mit der hiesigen Mafia versagt. Die Kriminalität hat sich unabhängig von den früheren Abkommen weiterentwickelt.«

Während Alfonso darauf hofft, dass Tepito im aktuellen Konflikt mit der Stadtverwaltung seinen rebellischen Ruf wieder einmal verteidigen wird, schenkt er den Versprechen von Bürgermeister Ebrard, neue soziale Zentren und Spielplätze zu bauen, wenig Glauben. Im Budget sei gerade mal Geld für die Grundsteinlegung vorgesehen gewesen, behauptet er.