Eine Reportage aus Thessaloniki

Feuer und Flamme

Das Klirren von Schaufensterscheiben, das Knallen von abgeschossenen Tränengaspatronen, Brandgeruch in den Straßen – eine Woche Straßenkampf in Thessaloniki.

Ganz oben auf dem Berg liegt die Altstadt. Von hier hat man einen herrlichen Blick über Thessaloniki und den Golf von Thermaikos. Es ist Sonntag, der 7. Dezember, mittags, die Sonne strahlt, nur wenige Wolken wandern über den tiefblauen Himmel. Aber da unten aus der Stadt steigen zwei Wolken auf. Fabrikschlote? Nein, als ich die steilen Gassen hinuntergehe, sehe ich, was da los ist. Plötzlich stehe ich mitten in einer Straßenschlacht. Am Rande des Universitätsgeländes bewerfen Vermummte eine kleine Gruppe Polizisten mit Steinen und Molotowcocktails. Die Polizisten werfen ebenfalls Steine, ab und zu schießen sie Tränengas in Richtung der Randalierer. Worum geht es? Was geht hier vor sich? Da ich hinter den Polizisten stehe, fliegen die Steine auch in meine Richtung, landen vor meinen Füßen. Beim Versuch, in eine andere Richtung weiterzugehen, stehe ich unvermittelt in einer Tränengaswolke. Rückzug! Im Souvláki-Imbiss läuft ein Fernsehgerät. Darin sind brennende Barrikaden zu sehen in Athen und Thessaloniki. Ein Student, der neben mir steht, klärt mich auf, was da los ist. Noch ahne ich nicht, dass dies die ganze kommende Woche bestimmen wird. Obwohl die zahlreichen brennenden Mülltonnen und zerstörten Bushaltestellen schon einen Vorgeschmack bieten.

Am Montag dann die Großdemonstration. 7 000 Menschen, vielleicht auch mehr, schieben sich durch die Innenstadt. Viele sind vermummt, tragen Helme, in den Händen Steine, Latten, Brechstangen. Neben ein paar älteren bürgerlich aussehenden Demonstranten laufen Vermummte, einer trägt einen Helm, eine Hass- und eine Gasmaske, Körperpanzer, Handschuhe, in der Hand einen Molli. Sichtlich genießt er seinen Auftritt. Die bürgerlichen Demonstranten stören sich nicht daran. So ziemlich jede Baustelle, jede Schaufensterscheibe, jede Mülltonne und Bushaltestelle und jedes Telefonhäuschen werden von der wütenden Menge zusammengedroschen. Vorne laufen die kommunistischen Gruppen in gut organisierten Reihen, mit roten Fahnen. Dann folgen mit etwa 200 Metern Abstand etwas weniger geordnet die anarchistischen Gruppen, hier sind die Fahnen schwarz-rot, die Demonstranten militanter. Viele sind sehr jung. Zwölfjährige Schülerinnen mit Palästinensertuch laufen ohne Angst neben offenbar altgedienten Anarchisten in voller Straßenkampfmontur. Noch einmal drei-, vierhundert Meter hinter diesem Block folgt ein phlegmatisch wirkender Trupp von Polizisten in Kampfanzügen, weniger als 30 Mann, sie sind eigentlich nur damit beschäftigt, brennende Mülltonnen von der Straße zu schieben. Dahinter fährt die Feuerwehr.
Die Feuerwehrleute kommen kaum damit nach, das zu löschen, was von Demonstranten angezündet wird. Die Demonstration hinterlässt eine Spur der Verwüstung im Einkaufsviertel. Fast alle Schaufenster sind zerschmettert, zahlreiche Banken und Geschäfte brennen lichterloh, darüber liegen Wohnungen, leben Menschen. Zum Schluss der Demonstration wird das Ministerium für Nordgriechenland attackiert, es ist das einzige Ministerium in der Millionenstadt. Jetzt rührt sich auch die Polizei, schießt Tränengas in die Menge. Das war’s denn aber auch schon. Am Morgen ist bereits eine Polizeiwache mit Steinen angegriffen worden, zahlreiche Gebäude der Universität sind besetzt. In der Stadt ist so gut wie keine Polizei zu sehen.
Am Dienstag ist die Demonstration deutlich kleiner. Höchstens 4 000 Menschen, wieder erstaunlich viele Jugendliche, darunter ganze Schulklassen, so scheint es. Sie errichten massenhaft brennende Barrikaden, wieder wird am Tor des Ministeriums gerüttelt, aber es hält. Und wieder greift erst hier die Polizei ein, von der vorher gar nichts zu sehen war. Wieder Tränengas. In der besetzten ehemaligen Fabrik Yfanet östlich des Universitätsgeländes geht das Gerücht um, die Regierung wolle morgen das Militär einsetzen. Als ich mir zuhause das Gesicht wasche, brennt es höllisch in den Augen.

Am Mittwoch soll ein Generalstreik sein. Doch hier in Thessaloniki ist nicht viel davon zu spüren. Die Busse fahren, die Geschäfte sind geöffnet – soweit sie wieder halbwegs repariert sind. Die Glaser sind eifrig bei der Arbeit, die ausgebrannten Banken und Läden werden mit Metallplatten versiegelt, Scherben zusammengekehrt. Generalstreik, Ausnahmezustand? Eher hat man den Eindruck, dass langsam der Alltag zurückkehrt. Auch im Fernsehen läuft wieder das normale Programm, nachdem die vergangenen drei Tage rund um die Uhr auf allen Kanälen nur Sondersendungen zu sehen gewesen sind. Vor einem der zahlreichen besetzten Häuser Thessalonikis ist die Hauptverkehrsstraße mit einer Barrikade blockiert. Später gelingt es einer Demonstration mit rund 2 000 Teilnehmern tatsächlich, den Zaun des Ministeriums niederzureißen. Wieder Polizei und Tränengas. Vor allem sind viele Zivilpolizisten in den Straßen. Eine kleine Gruppe Demons­tranten liefert sich eine Schlacht mit der Polizei, die sich nach einer halben Stunde zurückzieht.
Am Donnerstag regnet es. Das schöne Wetter ist vorbei, auch die Riots? Eine Demonstration von Anarchisten, Linksradikalen und euphorischen Kids läuft diesmal in die äußeren östlichen Stadtviertel, um auch dort den Menschen die Kunde von der gerade stattfindenden Revolte zu überbringen. Im Stadtzentrum selbst ist es weitgehend ruhig. Der Protestzug wird erstmals von einem größeren Polizeiaufgebot begleitet. Dennoch: So berüchtigt die griechische Polizei ist, während dieser Tage kann von repressivem Verhalten ihrerseits nicht die Rede sein. Eher scheint es so, als wenn sie von Beginn an kapituliert hätte.
Freitag. Es regnet immer noch, Wind peitscht durch die Straßen. Ich wette darauf, dass die Demonstration heute ein Flop wird. Ich verliere eine Flasche Ouzo. Gut 5 000 Menschen ziehen durch die zentrale Egnatia-Straße. Diesmal zuerst die Anarchisten, dann die kommunistischen Gruppen. Kein einziger uniformierter Polizist begleitet den Marsch zunächst. Später gesellen sich einige Beamte dazu. Heute geht es zwei Stunden lang Richtung Westen, um auch die dortigen Bewohner jenseits der City miteinzubeziehen. Doch anders als gestern im Osten winkt kaum jemand vom Bal­kon den Demonstranten zu. Liegt es am Regen?
Schien die ersten drei Tage lang die ganze Stadt im Ausnahmezustand zu sein, wirken die Proteste inzwischen isolierter. Es ist nun wohl eher der Durchhaltewillen der organisierten anarchistischen Gruppen, der den Protest aufrechterhält. In Athen soll mehr los sein, heißt es. Aber auch hier ist für den Samstag wieder eine Demonstration angekündigt. Es geht also weiter.