Jonathan Littells Studie »Das Trockene und das Feuchte«

Hart wie Kruppstahl

Jonathan Littells Studie »Das Trockene und das Feuchte« versucht eine Annäherung an die Sprach- und Geisteswelt des europä­ischen Faschismus.

Die Fotografie zeigt einen Offizier der Waffen-SS auf einem Schützenpanzer, den Arm zum Hitlergruß gestreckt. Die Kinder an seiner Seite halten Blumen in den Händen und ahmen den Gruß nach. Die Szene ist eine Propagandaaufnahme des wallonischen SS-Kommandeurs Léon Degrelle und seiner Kinder bei der »Siegesparade« im April 1944 in Brüssel nach seiner Rückkehr von der Ostfront.
Das Bild war der Anlass für einen Briefwechsel zwischen dem Schriftsteller Jonathan Littell und dem Kulturtheoretiker Klaus Theweleit. Lit­tell schickte es Theweleit, versehen mit der Bemerkung: »Was bedeuten dem glückseligen, triumphierenden Faschisten die eigenen Kinder? Mir scheint, sie haben hier keine realere Exis­tenz für ihn als die Menschen, die er tötet oder töten lässt; er behandelt sie wie leere Figuren, die er, genauso wie die Blumen und die Orden, im Rahmen prächtiger Inszenierungen zur Schau stellt.« Littell erkannte darin eine prototypische Inszenierung des »soldatischen Mannes«, also jene Grundfigur des faschistischen Mörders, mit dessen Psychogenese sich Theweleit drei Jahrzehnte zuvor in seiner Studie »Männerphantasien« befasst hatte.
Dem abgebildeten Soldaten widmete Jonathan Littell eine eigene Schrift: »Das Trockene und das Feuchte«. Sie ist ein »kurzer Einfall in faschis­tisches Gelände«, wie es im Untertitel ironisch heißt. In ihr nimmt Littell sich der Karriere und der literarischen Hinterlassenschaften Léon Degrelles an, des Führers der belgischen Faschis­ten und Symbolfigur der wallonischen Kollaboration mit dem Nationalsozialismus. Der Text entstand als Studie, während Littell an den »Wohlgesinnten« schrieb. Er ist also gewissermaßen ein Metatext zu jener fast vierzehnhundert Seiten starken fiktiven Autobiografie des fiktiven deutschen SD-Offiziers Maximilian Aue, für die Littell 2006 in Frankreich mit höchsten literarischen Ehren ausgezeichnet wurde. Die Übersetzung der »Wohlgesinnten« vermochte 2008 das deutsche Feuilleton ein Frühjahr lang zu beherrschen, wobei man sich in Deutschland reservierter als in Frankreich zeigte. Insbesonde­re die explizite Darstellung von – zumeist schwuler – Sexualität und Gewalt nahm die Kritik hier­zulande dem Autor übel. Doch unterschlugen die Vorwürfe der Pornografie den Umstand, dass Littell mit dieser Darstellung des Faschismus in einer besonderen Genretradition steht. Immerhin gibt es seit de Sade, Céline und Georges Bataille eine literarische Strömung, die sich auf Darstellung sexueller Gewaltexzesse gründet.
Passagenweise nehmen Littells Darstellungen des Kriegsgeschehens grotesk apokalyptische Züge an, wie sie etwa aus Curzio Malapartes Berichten über den Zweiten Weltkrieg bekannt sind. Schließlich zeigte Pasolinis Film »Salò oder Die 120 Tage von Sodom«, dass sich auch kritische Bewältigungsversuche einer surreal-sadis­tischen Lesart des Faschismus bedienen können.
Auf Theweleits Theorien einer spezifisch faschistischen Körperlichkeit, die sich über die (sexu­alisierte) Zerstörung des gegnerischen Kör­pers reproduziert, übte dies großen Einfluss aus. In »Das Trockene und das Feuchte« machte Littell nun anhand der Publikationen Degrelles diese Momente der Vernichtung sichtbar. Er un­tersuchte dessen Schriften auf die von Theweleit als typisch für den faschistischen Text ausgemachten Strukturelemente. Eine Suche also nach grenzübergreifenden Spuren in den Zeugnissen des europäischen Faschismus. Zweifellos sind viele Motive in die »Wohlgesinnten« ein­gewandert: Neben vereinzelter Nennungen Degrelles am Rande der Handlung führt Littell dort ausführlich durch Personal und Geisteswelt des katholisch geprägten, französischsprachigen Faschismus, indem er seinen Protagonisten mit dessen Parteigängern in Frankreich aufwachsen lässt. Mit der Veröffentlichung des Essays legte Littell jetzt sein theoretisches Instrumentarium offen. Theweleit verfasste das Nachwort.
Léon Degrelle, das Objekt der Analyse, war Führer der belgischen »Rexisten«, einer katholischen ultranationalistischen Gruppierung, die in den dreißiger Jahren einen nicht unerheb­lichen politischen Einfluss hatte. Wegen ihrer prodeutschen Position verlor sie jedoch in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg schnell wieder an Einfluss. Degrelle wurde 1940 nach dem deut­schen Angriff interniert. Nach der belgischen Niederlage versuchte er, nunmehr mit Einverständnis des Königshauses, sich an die Spitze der belgischen Kollaboration mit dem Deutschen Reich zu stellen. Allerdings bevorzugten die neuen Machthaber zunächst die flämische Seite und begegneten dem Wallonen Degrelle mit Misstrauen. Dieser erwies sich als wendiger Opportunist, dem der Rahmen der belgischen Monarchie zu eng wurde. Der Katholik sah sich und seine Getreuen als »wahrhaft christliche Rit­ter« mit dem Auftrag der Erlösung Europas vom Bolschewismus und setzte auf den Nationalsozialismus. Er scheute sich nicht, die royalistischen Kreise Belgiens mit der These eines »wallonischen Germanentums« zu brüskieren, das sich als »Großburgund« mit dem Deutschen Reich verbünden solle. 1941 trat er der Legion »Wallonie« innerhalb der Wehrmacht bei. Er über­lebte den Einsatz an der Ostfront und diente sich mit intrigantem Geschick nach oben. Nach­dem sein Kommandeur gefallen war, wurde er 1944 schließlich zum Chef der Einheit ernannt, die man mittlerweile zu seiner Genugtuung als »Sturmbrigade Wallonien« der Waffen-SS ein­gegliedert hatte. Trotz immenser Verluste steigerte insbesondere der geglückte Ausbruch aus der Umklammerung durch die Rote Armee im Kessel von Tscherkassy Degrelles Ansehen bei der belgischen Kollaboration. Hitler ernannte ihn zum »Volksführer« der Wallonen, er wurde zum Shooting Star der deutschen Propaganda, die zunehmend einen europäischen Geist der Waffen-SS beschwor.
Damit, so kommentiert Littell die steile Karriere, war der Plan Degrelles aufgegangen, sich als »unumgänglicher belgischer Gesprächspartner« im Rahmen der europäischen Neuordnung nach einem deutschen Sieg aufzudrängen. Aller­dings fiel diese Neuordnung mit der deutschen Niederlage nicht mehr zu seinen Gunsten aus, weshalb er sich im Mai 1945 nach Spanien absetzte. In Belgien nach dem Krieg in Abwesenheit zum Tode verurteilt, betätigte er sich in seinem Exil als Geschäftsmann, pflegte, eingebunden in rechte Netzwerke, das Andenken der wallonischen Kollaboration und verstarb schließlich 1994, nach den Worten Littells, »unverbesserlich, stärker denn je in seine Lügen und Posen ein­gemauert«.
Diese Posen, für die Degrelle schon während des Krieges bekannt war, möchte Littell nun untersuchen. Als typisch für seine notorisch über­zogene Selbstdarstellung wird die Behauptung Degrelles genannt, er sei das reale Vorbild für die Comicfigur »Tintin« (»Tim und Struppi«) gewesen, da er deren Zeichner Hergé aus der katholischen Jugendbewegung gekannt habe und dem Helden äußerst ähnlich sehe. Noch heute kursiert in einschlägigen Kreisen unter Degrelles Namen ein Pamphlet mit dem Titel »Tintin mon copain«.
Littell geht es weniger um die offensichtlichen Unwahrheiten, die Degrelle in seinen Memoiren verbreitete, sondern um sprachliche Merkmale, die »Anatomie des faschistischen Diskurses«. Die von Theweleit entlehnte These, dass der Faschist »um sich zu strukturieren, die Welt strukturieren« muss – ein Vorgang, der sich im Wesentlichen über den Drill und das Töten vollzieht –, findet in den Schriften Degrelles ausreichend Nahrung. Die Sprache dient in ihnen als Mittel, diese Struktur zu »bewirken«, in dieser Zurichtung der Welt produziert sie unmittelbar die Wirklichkeit. »Für den Faschisten ist die Metapher nie nur eine Metapher«, schreibt Littell, und dies mache »die Kraft, die unglaubliche Wirksamkeit der faschistischen Metaphern« aus.
In der deutschen Kolonisation des Ostens sah Degrelle die Realisierung der faschistischen Wirklichkeit; seine Kriegstagebücher publizierte er unter dem Titel »Le pays réel«, was Littell als »Reterritorialisierung« im Sinne von Deleuze deutet. All dies strukturiert sich, wie Littell hervorhebt, mittels semantischer Gegensatzpaa­re, vor allem des »Trockenen und des Feuchten«. Dieses »Feuchte« ist wie das »Schlaffe«, »Flüs­­sige«, wie alles Form- und Körperlose, der Hauptfeind des zum Panzer verhärteten Körpers des faschistischen Mannes. Es bedroht daher auch den Gesamterfolg der deutschen Kolonisierung. Mit Degrelles Worten: »Der größte und schnellste militärische Sieg aller Zeiten wurde kurz vor seiner Vollendung aufgehalten durch den Schlamm. Allein durch den Schlamm, jenen Urschlamm, so alt wie die Welt, der in seiner Zähigkeit mächtiger ist als die Strategen, das Gold, das Hirn und der Stolz der Menschen.« In diesem Schlamm, klagt Degrelle, »kämpften die sowjetischen Soldaten bis zum letzten Atem­zug und glitten uns durch die Finger wie Schlangen«.
Der Bolschewismus hatte den Osten »verflüssigt«, ihn ungreifbar und infektiös gemacht. Eine Form, die im Kampf keine Kompromisse, sondern nur die Vernichtung zulässt. Dass diese Zuschreibungen nur für den Feind im Osten bestimmt sind, zeigt ein Exkurs zu Degrelles Aufzeichnungen über amerikanische Gegner an der Ardennenfront. »Statt der roten Flut der angloamerikanische Schraubstock«, charakterisiert Littell die grundverschiedene Metaphorik Degrelles.
»Das Trockene und das Feuchte« ist trotz seines heiklen Gegenstandes kein Text, der die Anforderungen wissenschaftlicher Seminararbeiten erfüllen will. Dies wurde dem Autor vorgeworfen. Wer zudem mit dem assoziativen Colla­gestil von dekonstruktivistischen und psycho­analytischen Ansätzen hadert, wird an dem Buch keine Freude haben. Auch lassen Littell und The­weleit einen offenen Dissens ihrer Einschätzung Adolf Eichmanns einfach stehen. Das mag für alle unbefriedigend sein, die sich mehr Strin­genz in der Argumentation versprochen haben. Aber vor allem nimmt sich der Essay eines Text­corpus an, der hierzulande weitgehend unbekannt ist. Er zeigt, dass die Theweleitsche Analyse des faschistischen Textes universalisierbar ist, und bietet Einblicke in die Rechtfertigungsstrategien der frankophonen Kollaboration mit den Deutschen. Er ist daher nicht nur eine sinn­volle Lektürehilfe für die »Wohlgesinnten«, son­dern eignet sich darüber hinaus zur Annäherung an die Sprach- und Geisteswelt des europäischen Faschismus.

Jonathan Littell: Das Trockene und das Feuchte. Ein kurzer Einfall in faschistisches Gelände. Aus dem Französischen von Hainer Kober. Mit einem Nachwort von Klaus Theweleit. Berlin-Verlag, Berlin 2009, 160 Seiten, 16,90 Euro