Das Bundesverfassungsgericht und die Hartz-IV-Regelsätze

Kindheit im Sparmodus

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe überprüft das bisherige Verfahren zur Festlegung von Regelsätzen bei Hartz IV.

Was braucht ein Kind? Was braucht ein Kind, dessen Eltern oder alleinerziehender Elternteil arbeitslos sind und ALG II beziehen? Diese Frage beschäftigt nicht nur das Bundesverfassungsgericht, sondern auch die deutsche Öffentlichkeit, seit offensichtlich wurde, dass sich das Bundesministerium für Arbeit und Soziales keinerlei Mühe gegeben hat, ihr nachzugehen. Die bisherige Berechnung der Regelsätze beruhte darauf, dass man ein Kind einfach wie einen kleinen Erwachsenen behandelte.

Kind = kleiner, ergo weniger ALG II, so lautet die Formel der Bundesregierung, die es sich leicht gemacht hat und im Übrigen auch das Zustandekommen der Regelsätze für Erwachsene nicht schlüssig erklären kann. Allzu leicht, findet das Bundesverfassungsgericht und befand auch der arbeitslose Kläger Thomas K., dessen Klage stattgegeben wurde und der auf Spiegel online mit den Worten zitiert wirde:»Ich möchte Gerechtigkeit«.
Aber: Wie stellt man die her? Jeder empathiefähige Erwachsene weiß, was auch dem Bundesverfassungsgericht klar zu sein scheint, dass Kinder mehr Windeln, mehr Schuhe, mehr Schokolade und mehr intellektuelle Anregungen brauchen als Erwachsene.

»Kinder sind teuer«, erklärt auch die alleinerziehende Barbara W. aus einer Kleinstadt im wohlhabenden Bundesland Baden-Württemberg, »das läppert sich: Ich zahle jeden Monat zehn Euro in die Klassenkasse meiner Großen und 14 Euro für das ›gemeinsame Kochen‹ der Kleinen im Kindergarten. Der Kindergarten schlägt mit 80 Euro monatlich zu Buche, die Ballettstunden für beide mit knapp 70 Euro. Dazu kommen noch Geigenunterricht und das Glockenspiel, eine Art musikalische Früherziehung. Das größte Problem ist, dass ich die Kinder ständig abholen und irgendwohin bringen muss und ein Auto brauche. Jetzt stehen neue Winterreifen an, und wenn ich Geräusche im Motor höre, dann schlafe ich schlecht.«
Sich mitunter Sorgen machen muss auch Berivan M.*, die im Berliner Stadtteil Hohenschönhausen alleine drei Kinder erzieht. Das Jobcenter finanziert ihre Vierzimmerwohnung mit einer Monatsmiete von 800 Euro, und sie bezieht den monatlichen Regelsatz für Erwachsene. Dazu kommen jeweils etwas mehr als 200 Euro für jedes Kind. Berivan M. sagt, dass sie keinerlei In­teresse daran habe, nicht mehr ALG II zu beziehen und stattdessen arbeiten zu gehen. Als Frau ohne Berufsabschluss hat sie kaum Aussicht, die rund 1 700 Euro inklusive Miete zu verdienen, die sie summa summarum jeden Monat erhält. »Vor allem die Wohnung könnte ich doch niemals selbst bezahlen.«
Barbara W. auch nicht. Die Enddreißigerin, die halbtags als Sekretärin arbeitet, liegt mit dem Kindergeld und der finanziellen Unterstützung durch ihren ehemaligen Partner knapp unter dem Einkommen von Berivan M. und lebt mit ihren Kindern in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung. »Macht aber nichts«, sagt sie. »Die Kinder haben sowieso volles Programm. Nach Schule und Kindergarten bringe ich sie zum Ballett, zur Geige oder zum Glockenspiel. Danach folgen Hausaufgaben, und dann reicht es nur noch für Abendbrot, Kuscheln und die Gute-Nacht-Geschichte. Häufig bin ich so müde, dass ich mich daneben lege.« Geige und Glockenspiel sind etwas, was in den Straßenzügen von Berlin-Hohenschönhausen oder Hellersdorf eher unbekannt ist.

Im Wohnzimmer von Berivan M. sitzen oft Kinder herum, Freunde der ihrigen, die ebenfalls aus so genannten Hartz-IV-Familien stammen und nur ungern nach Hause gehen. Denn dort kümmert sich keiner um sie. Und bisweilen hapert es auch an ihrer Ernährung.
Aus diesem Grund wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche von christlichen oder anderen Trägern geleitete Tafeln oder Kinderhilfsprojekte gegründet, wie Kireli und Die Arche in Berlin oder »Jedem Kind eine warme Mahlzeit« in Meißen, um Kindern wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag anzubieten. Weil Armut herrscht, dachte man. Weil Eltern sich einfach weigerten, für die Schulspeisung ihrer Kinder zu bezahlen. Weil ALG II nicht zum Leben reicht. Der Rotary Club, Träger des Meißner Hilfsprojekts, meint hingegen, dass die staatliche Zuwendung ausreiche, aber das Verantwortungsbewusstsein der Eltern schwinde. Das Wissen um die Existenz einer Versorgungseinrichtung führe in manchen Familien dazu, dass nicht mehr gekocht werde. Lehrer an Schulen in so genannten Berliner Problembezirken berichten von Kindern, die verspätet und ohne Frühstück in der Schule ankommen. Bemerkenswert finden sie auch den extremen Fernsehkonsum ihrer Schüler.
An der Klage von Thomas K., die derzeit beim Bundesverfassungsgericht anhängig ist, fällt auf, dass er die vermeintlichen Interessen seiner Tochter an den Elektrogeräten festmacht, die dem Haushalt zur Verfügung stehen. Oder eben nicht: Der Fernsehapparat seiner Familie sei ein Auslaufmodell von 1996, hatte er – Spiegel online zufolge – moniert, die Familie lebe ohne Stereoanlage, einen Computer besitze die Tochter nur deshalb, weil die Oma ihr einen geschenkt habe.
Ob höhere Zuwendungen an die Familie auch ein Mehr an Gerechtigkeit und Kindeswohl für die Tochter bedeuten würde, ist allerdings genauso fraglich, wie es schwierig wäre, ein Mehr an Zuwendungen für Berivan M. einer Barbara W. zu erklären, die dieses ja auch mitfinanzieren müsste.

Das Thema Armut und ALG II ist weitaus diffiziler, als es derzeit vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelt wird. Hier geht es allein um Geld, um die Frage, wie lange ein Shampoo hält und warum im Regelsatz für Kinder ein gewisser Prozentsatz für Zigaretten einberechnet ist, aber keiner für Windeln. Das Thema Armut und ALG II ist auch komplexer, als mancher Linke wahrhaben möchte, denn es hat auch mit Sich-Einrichten und Lethargie, gar mit Verwahrlosung, zu tun.
Dazu kommt, dass eine Neubemessung der Regelsätze für ALG II auch auf weniger Geld für die Betroffenen hinauslaufen könnte, denn die Zahlen, die das Bundesministerium für die Errechnung der Regelsätze benutzt hat und weiterhin anwendet, beruhen auf dem Konsumverhalten des unteren Fünftels der Bevölkerung, das nicht auf ALG II angewiesen ist. Und das wird zwangsläufig immer bescheidener, denn die Reallöhne sinken.
Es geht also nicht nur um die Klage von Thomas K., sondern auch um die Frage, warum Berivan M., die seit zehn Jahren in der BRD lebt, sich nicht um eine berufliche Perspektive bemüht hat. Der Mindestlohn gehört ebenso in diese Debatte wie ein Nachdenken über Weiterbildungsmöglichkeiten für Erwachsene. Und auch die zahlreichen Personaldienstleistungsfirmen, die unqualifizierte Arbeitnehmer noch einmal um einen Teil ihres kargen Einkommens bringen, sollte man im Hinblick auf die Berechnungsgrundlage für die Regelsätze miteinbeziehen. Am Ende stellt sich aber auch die Frage, warum die Kinder von Barbara W. Aussicht auf ein besseres Leben haben als die Kinder von Berivan M., obwohl Barbara W. faktisch über weniger Geld und eine kleinere Wohnung verfügt.

*Name von der Redaktion geändert