Das Festival der direkten Demokratie in Thessaloniki

Wo bitte geht’s zur Revolution?

Mit dem Dritten Festival der direkten ­Demokratie wird in Thessaloniki die Herbstsaison eröffnet.

Krise? Was für eine Krise? An der Promenade am Meer in Thessaloniki ist alles wie immer. Die klimatisierten Cafés und Bars sind ab dem Nachmittags gut besucht, nachts steppt dort der Bär. Aber vielleicht trügt der Schein der Normalität. Vielleicht halten sich viele Gäste mittlerweile stundenlang an demselben Glas fest.
Auf dem Weg zur Aristoteles-Universität fällt die verstärkte Polizeipräsenz auf. Dort findet in dieser ersten Septemberwoche das Dritte Festival der direkten Demokratie statt, veranstaltet von dem, wie einige meinen, am besten organisierten Teil der anarchistischen Szene, der antiautoritären Bewegung Alpha-Kappa (AK).
Im Aufruf zu der dreitägigen Diskussions- und Konzertveranstaltung ziehen die Organisatoren eine klare Linie zu den vorherigen Festivals. Beim ersten, im September 2010, sei es darum gegangen, sich »den Prozess vorzustellen, der uns in eine andere und bessere Welt führen kann«, beim zweiten, im vorigen Jahr, stellten sie »diese Ideen auf eine neue Basis«, die »gekennzeichnet war von den frischen Ideen, dem Enthusiasmus und den Widersprüchen der Mobilisierung auf den griechischen Plätzen« – der Occupy-Bewegung nach griechischer Art mit Versammlungen von teils Tausenden auf städtischen Plätzen mit öffentlicher Diskussion, die eine Parlamentsblockade und Generalstreiks initiiert, zugleich aber nationalis­tischen Ideologien Gehör verschafft hatten. Dieses Jahr nun solle, indem über »gemeinsame Ideen, Taktiken und Kämpfe« diskutiert werde, ein »radikales Netzwerk« geschaffen werden, »das uns Möglichkeiten zum effektiven Widerstand bietet und uns bei der Rückgewinnung unserer Leben hilft«. Von den Ideen zur Basis zum Netzwerk – unaufhaltsam schreitet die Konkretisierung voran.
Zumindest finden die Diskussionen nicht im luftleeren Raum statt. Angesichts der schrumpfenden Ökonomie des Landes gibt es diverse Experimente mit der Selbstorganisation: von der Ausschaltung des Handels durch direkte Kooperation mit agrarischen Produzenten über rudimentäre Formen einer selbstorganisierten Krankenversorgung bis zu lang andauernden Arbeitskämpfen wie bei VioMet in der Industriezone außerhalb Thessalonikis. In einem weiteren Konflikt in Thessaloniki um die Privatisierung der städtischen Wasserversorgung wollen diverse von AK ins Leben gerufene Initiativen in den Stadtteilen ein genossenschaftliches Modell durchsetzen.

Reflektiert wird dies am ersten Tag des Festivals in zwei Panels zur sogenannten sozialen oder solidarischen Ökonomie. Die Diskussionen finden in der theologischen Fakultät statt, Heiligenbilder an den Wänden stehen in einem eigenartigen Kontrast zu den verhandelten Themen. Viele rauchen wie die Schlote. Der kritische Appell einer rothaarigen Akademikerin auf dem Podium, die ein Buch über die soziale Ökonomie verfasst hat, zunächst zu definieren, was darunter verstanden werden soll, weil selbstorganisierte Projekte den Kapitalismus auch stabilisieren könnten, verhallt ungehört. Es bleibt einem aus Argentinien angereisten Radikalen, der dort mit der Koordination der selbstverwalteten Fabriken befasst ist, vorbehalten, auf einige Probleme hinzuweisen. Nur durch eine starke Unterstützungsbewegung in den Stadtteilen, so berichtet mir ein Freund später von dem Redebeitrag des toughen Argentiniers, seien die Fabrikbesetzungen gegen die etablierten Gewerkschaften und die Agenturen des Staats durchzusetzen gewesen. Doch erst in einer Situation, in der nur noch zwischen Rausschmiss und Hunger oder aber der selbstorganisierten Übernahme des Ladens zu wählen war, hätten die Arbeiterinnen und Arbeiter Fabriken besetzt – zu spät und zu wenige, um den argentinischen Kapitalismus ernstlich zu gefährden.
Soziale bzw. solidarische Ökonomie, Selbstorganisation am Arbeitsplatz, »Widerstand lokaler Gemeinden gegen zerstörerische kapitalistische Entwicklungen«, wie es im Aufruf zum Festival heißt und auf einem Panel zum Widerstand gegen den Goldabbau auf Chalkidiki, der touristisch geprägten Region nahe Thessaloniki, diskutiert wird – darin besteht der sozusagen strategische Einsatz des Festivals.
Aber es ist klar, dass dabei viele andere wichtige Themen unter den Tisch fallen. Die nationale Formierung etwa, wie sie sich in der Bürgerbewegung mit dem schönen Namen »Wir verbrauchen, was wir produzieren« ausdrückt, die mit dem Slogan »Ich kleide mich, ich esse und reise …  griechisch!« agitiert. Oder das, was manche als schleichende Faschisierung der Gesellschaft bezeichnen. Zwar werden Versuche der Nazis von Chrysi Avgi, in den sozialen Bewegungen Fuß zu fassen, indem sie mittels Delegationen Unterstützung anbieten – hier in einer bestreikten Fabrik, dort in einer Gemeinde auf Chalkidiki –, regelmäßig in Diskussionen am Rande der Veranstaltungen erwähnt. Aber eine eigenständige Debatte darüber gibt es auf dem Festival nicht. Eine Antifa-Demonstration gegen den »gesellschaftlichen Kannibalismus« mit 500 oder 1 000 Beteiligten findet dort kaum Beachtung. Vielleicht liegt es daran, dass sie zur gleichen Zeit abgehalten wird wie eine Diskussion über die künftigen Aktionen des M31-Bündnisses.

Beteiligen sich an den politischen Debatten einige Hundert, ziehen die allabendlichen Konzerte Tausende an. Auf dem Campus ist eine große Bühne aufgebaut, an einer Bar gibt es neben dem berüchtigten Henninger das griechische Mythos-Bier, beides wird in großen Tonnen voller Wasser gekühlt. Nebendran brutzelt eine seit Jahren eingespielte Combo Souvlaki-Spieße auf einem rauchenden Riesengrill. Das kulturelle Highlight findet Freitagnacht statt: Thanasis Papakonstantinou mit seinen rockig unterlegten wehmütigen Weisen. Da werden die härtesten Straßenkämpfer weich und fangen an, mit melancholischem Blick zu schunkeln.
Am Samstag wird einer anderen Tradition gefrönt. Da findet die Demonstration zur alljährlichen Industriemesse in Thessaloniki statt, früher ein militantes Ritual ähnlich den 1. Mai-Festspielen in Kreuzberg. Eine Optimismus verbreitende Rede des Ministerpräsidenten auf der Messe zur Lage der Nation und der Situation der griechischen Wirtschaft fällt dieses Jahr aus begreiflichen Gründen aus, eine schnöde Pressekonferenz muss genügen. Die Demonstration zieht los. Dieses Jahr geht es auch gegen die Austeritätspolitik, mehr als 10 000 Menschen sind anwesend. Vorne ein großer, von AK dominierter antiauto­ritärer Block. Dort werden lange Stangen bevorzugt, an denen manchmal eine schwarz-rote Flaggensimulation befestigt ist. Die Demonstranten in den Blocks der stalinistischen KKE und der mit ihr verbundenen Gewerkschaft Pame hingegen präferieren die kurzen, dicken Axtstiele, oft mit roten Lappen verschönert. Man sieht Helme, Gasmasken, Ski­brillen – man weiß ja nie genau, was sich auf einer Demonstration nicht alles noch als nützlich erweisen kann. Als der anarchistische Block an dem der Pame vorbeizieht, kommt es zu heftigen Wortgefechten. Alte Feindschaft rostet nicht. Aber generell ist die Demonstration eher auf Deeskalation angelegt. Der antiautoritäre Block zieht schnell am Messegelände mit den dort herumlungernden Polizeikräften vorbei. Demo auflösen und ab ins Mikropolis, die von AK organisierte Kneipe, ist die Devise. Aus der Ferne hört man einige explodierende Tränengasgranaten, aber man löst sich ja gerade kollektiv und sachgemäß auf, da ist das wurscht. Hooligans, so berichten Augenzeugen später, hätten ein wenig auf den Putz gehauen.
Dafür knallt es tags darauf. An der Baustelle, wo der Goldabbau forciert werden soll, auf Chalkidiki kommt es zu stundenlangen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die Sommerpause ist vorbei, die Herbstsaison eröffnet. Während die Wirtschaft implodiert, neigt die Gesellschaft zu plötzlichen Eruptionen.