Ein Bericht aus Aleppo, Syrien

Hoffen auf schlechtes Wetter

Die syrische Stadt Aleppo bleibt weiterhin umkämpft. Ein Bericht aus der fast vollständig zerstörten Stadt, in der sich vermutlich die Zukunft des Landes entscheiden wird.

Es regnet. Für die Einwohner Aleppos, Syriens zweitgrößter Stadt, ist das ein Geschenk des Himmels. Regen bedeutet dieser Tage, dass es zumindest keine Luftangriffe der Regierungsarmee von Bashar al-Assad geben wird. In Stadtvierteln, die noch nicht in Trümmern liegen, herrscht reger Marktbetrieb. Viel gibt es nicht, hauptsächlich Gemüse. Brot ist Mangelware. Vielerorts fehlen Wasser und Strom.
In den westlichen Medien ist die Rede vom Bürgerkrieg in Syrien. Die Aufständischen hingegen sprechen von Revolution, und Assad bezeichnet die Aufständischen seinerseits als Terroristen. In Aleppo, so sind sich die Einwohner sicher, entscheidet sich die Zukunft ihres Landes.
Bei der Einreise über den Grenzübergang bei Kilis in der Türkei am Tag zuvor scheint die Sonne bei angenehmen 25 Grad. Wer als Journalist nach Syrien will, kommt hier durch einen schmalen, verminten Korridor über die Grenze. Die Stadt A’zaz an der türkischen Grenze ist der einzige Grenzübergang, der von der Freien Syrischen Armee (FSA) kontrolliert wird. Die Vorlage des Reisepasses und eines Presseausweises genügen. Ein Stempel, fertig.

Das Flüchtlingscamp ist das erste, was ins Auge sticht. Hier versorgt der türkische Rote Halbmond rund 7 000 Flüchtlinge. Unter ihnen sind viele Kinder, die meisten sind aus Aleppo geflohen, traumatisiert, verletzt.
Direkt gegenüber vom Camp befindet sich ein Medienbüro. Junge Sympathisanten der FSA vermitteln hier Fahrgelegenheiten nach Aleppo. 200 Dollar kostet die riskante 50 Kilometer weite Fahrt mit dem Minibus. Der Fahrer, ein Mann mittleren Alters, umfährt gefährliche Kreuzungen und meidet Straßen, an denen mit versprengten Assad-Truppen zu rechnen ist. Im Zickzackkurs über teils staubige Holperpisten, oftmals kaum schneller als 30 km/h, werden kleine Dörfer auf dem Weg angesteuert. Junge Männer, FSA-Kämpfer, die nicht älter als Mitte 20 sind, steigen ein. Die Kommunikation auf Englisch scheitert. In bunt zusammengewürfelter Kleidung sitzen sie scherzend und lachend im Bus. Einige tragen nur einfache Badelatschen. Allen gemein sind die über den Schultern hängenden Waffen und Militärwesten mit großen Munitionstaschen. Wie wenig geschult sie im Umgang mit ihren Waffen sind, beweist der ohrenbetäubende Schuss, der sich plötzlich aus dem Lauf einer nicht gesicherten Maschinenpistole löst. Die Kugel reißt ein Loch in die Hose des Mannes. Gelächter und noch mehr Scherze sind die Antwort.
In Aleppo kümmert sich Abdel, ein 28jähriger ehemaliger Student mit guten Englischkenntnissen und Betreiber des Medienbüros, um die anreisenden Journalistinnen und Journalisten. Viele sind es nicht, die sich hier mit Schutzweste und Helm eingefunden haben. Alle reisen nach der ersten Nacht wieder ab. Erst in der dritten Nacht trudelt wieder eine Gruppe ein, zwei amerikanische Journalisten und ein italienischer Videoreporter, der bereits in Afghanistan filmte. Sie teilen sich einen irakischen Übersetzer. Eine spärlich eingerichtete Vier-Zimmer-Wohnung mit zwei Ma­tratzenlagern, einem Wohnzimmer und einem Arbeitszimmer mit einem Computer dient als Unterkunft.
Ein Landrover, einst Eigentum eines regime­treuen Assad-Offiziers, ist das Transportmittel. Abdel fährt. Er selbst hat seit Beginn der Kampfhandlungen im Norden Syriens zwei nahe Angehörige verloren. Eine Schutzweste will er dennoch nicht tragen: »Das ist gegen meine Würde!«
Seit Beginn der Schlacht um Aleppo im Juli 2012, als Aufständische die Polizeistationen der Stadt angriffen, hat es allein dort nach offiziellen Angaben 15 000 Tote gegeben. Aleppos historischer Basar, der weltgrößte überdachte Markt, wurde durch ein Großfeuer zerstört. Das von einer Panzergranate getroffene Minarett der 700 Jahre alten Mahmandar-Moschee ist schwer beschädigt. Die 1986 von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärte Altstadt liegt größtenteils in Trümmern.
Zwischen den zerstörten und aufgerissenen Häusern und Schuttbergen sind dunkle Stoffbahnen aufgespannt. Sie sollen die Zivilisten auf ihrem gefährlichen Weg aus ihren Häusern vor den Zielfernrohren der Scharfschützen verbergen. Dächer, die von den Kugeln der Scharfschützen durchsiebt wurden, zeugen vom Ernst der Lage. Auffallend sind die vielen ausgebrannten Buswracks ein- und desselben Busunternehmens. Die Fahrzeuge gehörten einst dem mächtigsten Clan der Stadt, der regimetreuen Familie al-Barri. Lange Zeit hatte die Familie es auch nach Ausbruch der Unruhen gegen das Regime geschafft, die Bevölkerung in Schach zu halten und einzuschüchtern. Dann änderte sich die Stimmung. Die ersten Busse brannten, angezündet von der aufgebrachten Bevölkerung. Heute sind sie bildhaft gewordenes Zeichen für die veränderte Lage, Revolution für die einen, Krieg und Zerstörung für die anderen. Mindestens ein Mitglied des al-Barri Clans soll von den Aufständischen exekutiert worden sein.
Mittlerweile ist Aleppo zu 80 Prozent in den Händen der FSA, zumindest nach den Angaben von Abu Tawfik, eines Kommandanten der Liwaa al-Tawhid-Division. Zwei Bezirke mit hohem kurdischen Bevölkerungsanteil seien unter Kontrolle der PYD, einer syrischen Kurden-Miliz unter Einfluss der PKK.
Assads Truppen seien eingekesselt, versichert Tawfik und Abdel wagt sonderbare historische Vergleiche und meint, es gebe Parallelen zur Schlacht um Stalingrad. Allerdings befinden sich laut Tawfik noch drei strategisch wichtige Punkte in den Händen von Assads Truppen: Der Internationale Flughafen, das Geheimdienstzentrum, in dem Menschen verhört und gefoltert würden, sowie die Zitadelle, eine mittelalterliche Festung mit meterdicken Mauern im Zentrum der Stadt. Von dort werde die Altstadt mit Mörsergranaten beschossen. Eine Todeszone. Ohne schwere Waffen sei ein Angriff auf die Zitadelle einfach nicht möglich, sagt Tawfik.
Meist sind es ortskundige Kämpfer der FSA, die in Stadtvierteln kämpfen, in denen sie aufgewachsen sind. Sie kennen jede Gasse, jedes Haus und haben so einen klaren Vorteil im Vergleich zu den regimetreuen Truppen, die meist über keinerlei Ortskenntnisse verfügen. Jeden Tag gebe es einen kleinen Fortschritt an der Front, sagt Tawfik stolz. Einig sind sich die Soldaten der FSA darüber, dass es ohne weitere Waffen und Munition schwierig sein wird, Assads Truppen zu schlagen. Ein Kämpfer zeigt wie zum Beweis eine selbstgebastelte Handgranate.

Die Enttäuschung darüber, dass die Hilfe des Westens ausbleibt, treibt die Aufständischen so immer mehr in den Dunstkreis der al-Qaida. In der Altstadt prangen Sprüche pro al-Qaida an der Wand. Das wird beschwichtigend von einem vorbeigehenden FSA-Soldaten dementiert. Ein anderer Kämpfer jedoch fügt hinzu: »Wir haben aber auch nichts gegen al-Qaida. Sie helfen uns und kämpfen selbst gegen Assad. Der Westen hilft nicht!«
Auf dem Rückweg zur Unterkunft geht die Sonne unter. Der Wetterbericht sagt Sonnenschein voraus. Keine guten Aussichten für Aleppo.