Werbung und Gesellschaft

Bitte um Aufmerksamkeit

Der Triumph der Reklame: über den historischen Ursprung und die gesellschaftliche Funktion von Werbung.

»Werbung versteht sich als Bitte um Aufmerksamkeit für das, was man zu bieten hat. Dass sie zumindest den Versuch unternimmt, Konsumenten in ihrem Sinn zu beeinflussen, liegt in der Natur des Instruments«, heißt es in einer Einführung zum Thema für Studierende der Betriebswirtschaftslehre. Triftiger könnte die Definition kaum sein, auch nicht in Hinblick auf die unumwunden formulierte Ideologie, die dem widersprüchlichen Prinzip der Werbung zu eigen ist: eine Bitte um Aufmerksamkeit, die den Adressaten allerdings ohne jede Freundlichkeit einer Bitte aufgezwungen wird. Der Widerspruch setzt sich im Adressaten der Werbung fort, im sogenannten Individuum. Richtet sich die Bitte um Aufmerksamkeit an das, was die Einzelnen und Vereinzelten für ihre menschlichen Begehren halten, so kennt die Werbung zweifellos den Menschen nur in seiner sozialisierten Individualform: als Konsumenten. Das wiederum ist nicht die gesellschaftliche Funktion der Werbung, sondern liegt, nach der bündigen Definition Günter Schweigers und Gertraud Schratteneckers von der Wirtschaftsuniversität Wien, Institut für Absatzwirtschaft, »in der Natur des Instruments«. Solche Natur ist die zweite, die noch aus jedem falschen Bedürfnis ein richtiges macht, aus jedem richtigen indes ein falsches – indem »der Mensch nur mehr in seinen tierischen Funktionen, Essen, Trinken und Zeugen, höchstens noch Wohnung, Schmuck etc., sich freitätig fühlt und in seinen menschlichen Funk­tionen nur mehr als Tier«, wie Marx über die entfremdete Arbeit notierte, deren zivilisierter Ausdruck die Werbung ist.
Das Grundprinzip der Werbung ist aus dem Tierreich übernommen: Was in der Natur im Wesent­lichen keinen anderen Zweck hat, als sich bestens paarungsgeeignet für die Fortpflanzung anzubieten, hat sich in der vergesellschafteten Menschheit vom unmittelbaren Paarungs- und Fortpflanzungsauftrag gelöst, jedoch eben in entscheidender Weise nicht ganz. Werbung operiert auch in der Menschenwelt weiterhin im Modus des Natürlichen, des Naturhaften oder Naturgegebenen – nur dass es jetzt um die Fortpflanzung der Gesellschaft als solcher geht, um die Paarung mit dem System und seiner Elementarform, der Ware, die sich gleichsam selbst anzupreisen scheint.
Jede Werbung ist ein Versprechen. Ob es eingelöst wird, ist zweitrangig, eigentlich sogar unwichtig. Es braucht nur die reale Referenz, dass es potentiell einlösbar ist; aber dieses Potentielle ist, je abstrakter das Reale, umso stärker dehnbar. Das Versprechen zielt auf eine Vorstellung von Glück, die allerdings an die glücklosen, tristen und stumpfen Zwänge der Natur gefesselt bleibt. Dieses falsche Spiel mit dem Glücksversprechen verlangt Werbung nachgerade, wo sich rücksichtslos die Logik des Warenverkehrs durchgesetzt hat und das gesellschaftliche Geschehen vom Doppelcharakter der Ware bestimmt ist: Werbung muss so verfahren, weil sonst die unüberbrückbare Kluft, die Differenz zwischen Tauschwert und Gebrauchswert der beworbenen Ware, allzu offenkundig würde.
Die Differenz von Tauschwert und Gebrauchswert charakterisiert den Widerspruch der Werbung: Die Bitte um Aufmerksamkeit preist den Gebrauchswert an, kraft des instrumentellen Zwangs, den Konsumenten an den Tauschwert zu fesseln. Wo die Menschen als gesellschaftliche Subjekte nicht mehr sind als Konsumenten, fallen mithin in der beworbenen Ware der Ideologie nach Tauschwert und Gebrauchswert zusammen, bilden die zwei Seiten der Ware in der Werbung gemeinsam das Image. In der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaft seit dem Fordismus ist das zur Struktur der sogenannten Kultur geworden, ist also diese Differenz verlebensweltlicht – deshalb sprechen Adorno und Horkheimer in der »Dialektik der Aufklärung« im Abschnitt über Kulturindustrie bereits im Untertitel von »Auf­klärung als Massenbetrug«.
Deshalb funktioniert die großartige Szene in John Carpenters »Sie leben« (1988), wo John Nada (Roddy Piper) erstmals eine der geheimnisvollen Sonnenbrillen aufsetzt und die wahre Botschaft hinter einem Großplakat der Firma Control Data – »We’re creating the transparent Computing Environment« – entdeckt: »Obey«. Wir finden genau das bis heute wieder in der »Obey Giant«-Kampa­gne des street artist Shepard Fairey. Deshalb funktioniert auch Barbara Krugers Plakatserie »I shop therefore I am«.

In dieser Weise ist Werbung, was sie eigentlich nicht sein will: Propaganda. Stattdessen suggeriert sie, eine Form der Kommunikation zu sein. Dass Propaganda und Kommunikation der Etymologie wie dem Konzept nach ihren historischen Ursprung in der katholischen Kirche haben, kommt nicht von ungefähr. Unterstützt von einer Bildsprache, die mittels Hell-Dunkel-Kontrasten den Gegensatz zwischen Gut und Böse darstellt, entwickeln sich in der Religion bereits im Mittelalter die noch heute bekannten Verfahren der Werbung. Durch Johannes Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern werden diese Verfahren erweitert; geschichtlich gilt übrigens Martin Luthers Anschlag seiner »95 Thesen« 1517 als eine der ersten großen Werbekampagnen.
Mit der industriellen Revolution folgt die Entwicklung der modernen Werbung vor allem zwei Wegen, die sich schließlich überschneiden: Werbung als Anzeige und als Reklame. 1841 wird in den USA die erste Agentur gegründet, die Anzeigen in Zeitschriften vermittelt. Gleichzeitig wird im Zusammenhang mit dem Verkauf von »Spezi­alitäten« – also Luxuswaren – in den Pariser Passagen erstmals von »Reklame« gesprochen. Ausgehend von der Lithographie Ende des 18. Jahrhunderts, bringt der Siebdruck auch farbige Plakate in die Städte. 1855 stehen in Berlin die ersten 100 nach Ernst Litfaß benannten Plakatanschlagsäulen. In den Metropolen der USA werden schon in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts Großbogenplakate als kommerzielle Werbemittel eingesetzt – bald darauf ist hier auch das erste Mal von einer »Verschandelung des Straßenbildes« durch Riesenplakate die Rede.
Der Offset-Druck Anfang des 20. Jahrhunderts bringt neue Möglichkeiten. Die Plakatgestaltung fällt nun in den Aufgabenbereich vieler Künstler, vor allem in Frankreich (Édouard Manet, Henri de Toulouse-Lautrec, später die Surrealisten). Die Werbung verschmilzt in der fortschreitenden kapitalistischen Ökonomie mit dem Design; der Fetischcharakter der Ware, den Marx noch in der Produktion versteckt darstellt, wird mit der Etablierung der modernen Konsumgesellschaft in der Werbung zum spektakulären Bilderrätsel.
Mit höherer Psychologie wird an die niederen Instinkte appelliert. Das setzt sich seit den zwanziger Jahren als ubiquitäre Strategie der Werbung durch. Edward Bernays, ein Neffe Sigmund Freuds, versucht, die Psychoanalyse für die Konsumökonomie nutzbar zu machen, und begründet die Public Relations: Sein wegweisendes Buch, veröffentlicht 1928, heißt schlicht »Propaganda«. Public Relations sind das Gesicht des Kapitalismus, die Hülle der Anatomie der Gesellschaft, welche Marx nach Hegel als die »materiellen Lebensverhältnisse« bezeichnet hat. Was sich im Wirtschaftsverkehr als Tausch vollzieht, wird nun – gerade mit der Gestaltung des Alltagslebens durch die Werbung – zur neuen Form moderner, demokratischer gesellschaftlicher Beziehungen, nämlich: zur Kommunikation. Dies verdichtete Harold Dwight Lasswell 1948 in der berühmten Formel: »Wer sagt was in welchem Kanal zu wem mit welchem Effekt?« Grundlegend für diese Form der Kommunikation ist die technische Verschränkung von Bild und Schrift; Werbung ist nun nicht mehr nur das, was auf Plakaten und in Zeitungsannoncen stattfindet, sondern was überhaupt als das moderne Leben sichtbar wird.
Der Durchbruch kommt mit dem Ersten Weltkrieg. Er war zumindest für die USA der erste moderne Propagandakrieg: Amerika agierte militärisch, um der Welt die Demokratie zu bringen. Erstmals wird die Politik mit denselben Verfahren der Werbung verkauft wie auch die Produkte der Konsumgüterindustrie. Ausschlaggebend war dafür der Einsatz der neuen Techniken von Fotografie und Film. Damit wurde der Begriff der Wahrheit auf die Probe gestellt: Fotografie und Film machen fortan das, was wahr ist, sichtbar; Wahrheit wird von einem rationalen Begriff zu einem ästhetischen Bild. Die Wirklichkeit wird zu einer Kategorie des Visuellen, zu einer Visualität, die das Bild des Ganzen zugleich zersetzt. Die Werbeplakate zeigen Ausschnittvergrößerungen einer Welt, die aus den gezeigten Teilen nicht als Totalität zusammensetzbar wäre: hier ein paar Augen, dort eine Hand, hier ein lachendes Gesicht, dort zwei Beine, hier ein Auto, dort eine doppelt so große Bierflasche, noch größer ein Kopfschmerzmittel und ebenso groß die Waschmaschine.

Die Wahrheit ist nicht hinter der Werbung, sondern in der Unwahrheit der Wirklichkeit, die die Werbung illustriert. Deshalb ist es vielleicht in eigensinniger Befindlichkeit begründet, die Abschaffung von (großer) Außenwerbung zu fordern. Subjektiv, sinnlich-praktisch ist es jedoch einigermaßen idiotisch: Die richtige Forderung wäre die Abschaffung der Wirklichkeit, die, um als Wirklichkeit überhaupt gelten zu können, die Werbung für sich nötig hat.
Anschaulich wird das mit der berühmten Fotografie Margaret Bourke-Whites, »Kentucky Flood«, die im Februar 1937 im Magazin Life veröffentlicht wurde: Ein die Fotografie ausfüllendes Plakat zeigt eine fröhliche, weiße, im Auto fahrende Mittelklasse-Kleinfamilie, dazu die Sprüche: »World’s highest standard of living« und »There’s no way like the American Way«. Vor dem Plakat reiht sich eine Schlange von vorwiegend Schwarzen, die hungrig und geduldig auf Essen warten.
Die Werbung präsentiert die Welt des Kapitals als Schlaraffenland. Sie ist nur noch das gerahmte Bild einer ohnehin allgegenwärtigen Logik des Spektakels. Adorno und Horkheimer nennen das den »Triumph der Reklame in der Kulturindus­trie, die zwangshafte Mimesis der Konsumenten an die zugleich durchschauten Kulturwaren«.
Abgeschafft werden muss nicht zuerst die Werbung, sondern das falsche System der Bedürf­nisse, dessen sie sich bedient und das sie zugleich produziert und reproduziert: in den in der Tat nicht sonderlich hübschen und wenig geschmackvollen Images, in denen die »Herrschaft übers Bedürfnis« sich als Verführung der menschlichen Begierde geriert; in der Verkettung von »Reklame, Information, Befehl«, wie es Adorno in »Das Schema der Massenkultur« skizziert. Die Werbung gehört insofern zu einem System, das jede gesellschaftliche Form der Aufklärung längst kassiert hat. Auch das ist der Massenbetrug ums Glück: dass die menschliche Dynamik vom »mo­ralischen Gesetz in mir und dem bestirnten Himmel über mir« (Kant) durch den künstlichen, mit Werbung tapezierten Himmel des Tauschgesetzes vollends und verlustfrei ersetzt ist.