Die Armee in den Favelas in Rio de Janeiro

Rio rüstet auf

Zwei Monate vor Beginn der Fußball-WM in Brasilien werden in Rio de Janeiro Polizeiaufgaben an die Armee übertragen, ganze Stadtviertel werden zu militärischen Besatzungszonen. Vor allem in den Favelas werden zivile Rechte weiter eingeschränkt.

»Es war im Januar. Ich lag noch ich noch im Bett, als ein Einsatzkommando mit Sturmgewehren ins Schlafzimmer eindrang«, erzählt der Motorradkurier Jorge. »Erst als ich meinen Personalausweis hervorgeholt hatte, zogen sie wieder ab. Solange kein Kamerateam in der Nähe ist, klopft niemand bei Hausdurchsuchungen in einer Favela an.« Ungebetene Besuche von der Militärpolizei sind in der Maré, einem Siedlungskomplex im Norden der Stadt Rio de Janeiro, keine Seltenheit. In dem von der brasilianischen Presse als gefährliches Armenviertel dargestellten Stadtteil nahmen es die Ordnungshüter mit den Bürgerrechten nie sonderlich genau. Gegen »Banditen«, »Drogenhändler« und »Süchtige« vorzugehen, hat Vorrang, erst recht kurz vor Beginn der Fußballweltmeisterschaft.
Die meisten Touristen und Einheimischen kennen die 15 Favelas, die zur Maré gehören, zumindest flüchtig. Ihre ziegelroten Häuserreihen Marke Eigenbau säumen die Avenida Brasil, eine der wichtigsten Zufahrtsstraßen der Stadt, die zum internationalen Flughafen führt. Der Stadtteil, in dem 130 000 Menschen leben, liegt weit entfernt von Zuckerhut, Copacabana und anderen Sehenswürdigkeiten in Rios Süden, deshalb spielte die Gegend bisher keine besondere Rolle bei Projekten der Stadtaufwertung und Sicherheitspolitik. Diese konzentrierten sich zunächst auf jene Favelas, die als Enklaven im reichen Südteil der Metropole liegen. Dort wurden ab 2008 die ersten von inzwischen 38 Einheiten der sogenannten Befriedungspolizei (UPP) eingeführt. Nach einer militärischen Besetzung kontrollieren spezielle Polizeieinheiten »nachhaltig« die Nachbarschaft. Bildungs- und Beschäftigungsinitiativen werben um Akzeptanz für die dauerhafte Präsenz von inzwischen etwa 9 000 Polizisten der UPP.

Mindestens ebenso viele Soldaten werden in den kommenden Tagen und Wochen für die »Befriedung« der Maré sorgen. Kriegsschiffe, Drohnen, Hundestaffeln, gepanzerte Fahrzeuge und Hubschrauber werden für einen möglichen Einsatz vorbereitet. Bereits am Sonntag besetzten 1 800 Polizisten Teile des Siedlungskomplexes, um den Einmarsch der Armee vorzubereiten. Mehr als 100 Personen wurden festgenommen, über 50 Schusswaffen unterschiedlicher Kaliber und gut 400 Kilogramm Marihuana sichergestellt.
Der Gouverneur von Rio de Janeiro, Sérgio Cabral, sprach von einem »historischen Tag« und urteilte: »Wenn das Anrücken der Polizei den Bewohnern früher Angst machte, verheißt es ihnen heute die Ankunft des Friedens.« Die Besetzung wird mindestens bis November dauern, wenn die Beamten der UPP das Kommando übernehmen sollen. »Für die Bewohner ist die Militärpräsenz ein großer Schritt zurück«, sagt Raquel Willadinho, Leiterin der NGO »Observatorium der Favelas«, die in der Maré tätig ist. »Denn die Soldaten sind im Rahmen einer Kriegslogik ausgebildet worden und genau diese Perspektive gilt es zu überwinden. Wir brauchen eine Sicherheitspolitik, die die Forderungen und Bedürfnisse der Bewohner ins Zentrum rückt.«
Doch diese spielen bei der Legitimation der laufenden Besetzung nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr wurde die Maré von den Medien als der kriminelle Gefahrenhort für die WM schlechthin gebrandmarkt. Nach Medienberichten sollen 19 tödliche Anschläge auf Befriedungspolizisten seit Jahresbeginn von hier aus koordiniert worden sein. Zudem sei den Bewohnern auch zuzutrauen, die Avenida Brasil zu blockieren, wie bereits im vergangenen Jahr geschehen. Das wäre ein logistischer Albtraum für die WM-Organisatoren, den es um jeden Preis zu verhindern gelte.
Dass der Auslöser der Straßenblockade im Juni 2013 die Tötung von neun Bewohnerinnen und Bewohnern der Maré durch Spezialeinheiten der Polizei gewesen war, wird dabei nicht erwähnt. Bis heute wurde kein abschließender Untersuchungsbericht zu dem Vorfall veröffentlicht. Diese Straflosigkeit habe System, meint Cecília Co­imbra von der Initiative »Nie wieder Folter«, die sich mit der Aufarbeitung der brasilianischen Militärdiktatur (1964 bis 1985) auseinandersetzt. »Es ist nicht übertrieben, von einer historischen Kontinuität zu sprechen«, meint Coimbra. »Es sind Fälle von Folter seitens der UPP dokumentiert, nach wie vor ›verschwinden‹ Verhaftete.« Zudem kritisiert sie, dass für die Besetzung der Maré per Präsidialdekret in Rio de Janeiro bereits zum sechsten Mal seit 2007 eine Sonderregelung namens »Sicherung von Gesetz und Ordnung« Anwendung finde, bei der die Armee polizeiliche Aufgaben wahrnehmen werde. »Niemand spricht es aus, aber Rio wird zur WM mit Notstandsverordnungen regiert werden. Wir leben zunehmend in einem strafenden Polizeistaat«, sagt Coimbra.

Trotz der starken Militärpräsenz wehren sich viele Einwohnerinnen und Einwohner der Maré gegen das Bild eines Gefahrengebiets. »Natürlich werde ich meine Kinder jetzt erstmal zu Hause lassen, bis klar ist, wie sich die Dinge weiter entwickeln«, erzählt ein junger Familienvater morgens in der Bäckerei. »Aber mehr auch nicht.« In der Bar zwei Häuser weiter will der Wirt auch in den kommenden Wochen wie gewohnt seine Tische und Stühle auf den Bürgersteig stellen, selbst wenn in letzter Zeit immer weniger Kundschaft komme. »Es ist wichtig, dass das Leben normal weiterläuft und wir bestehende zivile Projekte und Initiativen verteidigen«, sagt Willadinho. »Ein Konfrontationskurs mit den staatlichen Institutionen wäre kontraproduktiv. Wichtig ist es, im Dialog längerfristig auf eine umfassende Reform der Sicherheitspolitik hinzuarbeiten und aktuell auf die Wahrung unserer Rechte zu pochen.«
Gemeinsam mit Amnesty International und anderen NGOs hat das Observatorium Hunderte schwarz-gelbe Aufkleber gedruckt und verteilt. »Wir kennen unsere Rechte! Betreten Sie dieses Haus nicht, ohne die Rechtmäßigkeit der Handlung einzuhalten«, ist darauf zu lesen. Doch in einigen Teilen der Maré gelten seit Sonntag andere Regeln, ganz offiziell. Ein Gericht stellte einen kollektiven Durchsuchungsbefehl aus, der es Polizisten erlaubt, gewaltsam in jedes beliebige Haus einzudringen. »Ein verfassungswidriger Freibrief«, kritisiert Willadinho. »Im Moment hat sich alles sicherheitspolitische Denken und Handeln jedoch ganz der WM und den Präsidentschaftswahlen im Oktober verschrieben.« Und ohne massive Proteste auf der Straße werde sich daran auch nichts ändern. Die Frage ist, ob das Militär und die Polizei große Demonstrationen wie im vergangenen Jahr überhaupt zulassen werden. »Beobachten lässt sich in jedem Fall eine Zunahme staatlicher Gewalt und Repression im Namen von Recht und Ordnung«, so Coimbra.